Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
kleiner Kamin schmauchte. Vor der Halle befand sich ein großer Appellhofplatz, in dessen Mitte ein hoher Stahlturm aufragte, der – wenn auch erheblich kleiner – an den Eiffelturm in Paris erinnerte. Weiter hinten hatte man ein massives steinernes Gebäude errichtet, das von ferne wie ein modernes Turbinenkraftwerk wirkte, wie Leonard es bisher nur in Amerika gesehen hatte. Aus den beiden majestätisch wirkenden steinernen Schloten stieg dichter, dunkler Rauch auf, der in zwei langen unsteten Fahnen in Richtung Norden abzog.
»Himmelherr!« Pjotr stieß einen leisen Pfiff aus. »Was soll das denn darstellen?«
Die Dämmerung hatte die gesamte Umgebung in eine graublaue Farbe getaucht, die Licht und Schatten miteinander verschmelzen ließ, und doch entgingen Leonard und seinen Kameraden nicht die hohen Stacheldrahtzäune und Wachtürme, die das gesamte Areal umgaben.
Niemand hatte sich bisher getraut, Subbota zu fragen, warum man sie hierher gebracht hatte. Der Offizier war vom Schlitten abgesprungen und ging zusammen mit dem Kommandeur der Kosaken ein Stück zu Fuß zum Wachhäuschen. Die beiden Soldaten, die sie dort empfingen, salutierten, nachdem man sich zu erkennen gegeben hatte.
Nur die Kosaken lärmten, wie man es von ihnen gewohnt war.
Ihre Pferde schnaubten und scharrten mit den Hufen, ebenso ungeduldig wie ihre Herren, denen es nicht schnell genug ging, bis ihr Kommandeur und der Offizier der Ochrana endlich die Formalitäten geklärt hatten, auf dass man ihnen Einlass gewährte.
Igor Igorewitsch Lobow, ein russischer Offizier mit dem typisch finsteren Blick eines Lagerkommandanten, stand breitbeinig und mit verschränkten Armen vor einer Gruppe von Soldaten. Mit seiner turmhohen Bärenfellmütze und in seinem perfekt geschneiderten Uniformmantel bedachte er die Ankömmlinge mit einem Ausdruck der Verachtung, die sie augenblicklich auf die niedrigste Stufe herabsinken ließ, auf die ein Lebewesen überhaupt fallen konnte.
Subbota sorgte dafür, dass Leonard und seine Leidensgenossen so |156| rasch wie möglich erfuhren, dass sie dem gestrengen Offizier, der im Traum nicht daran dachte, sich persönlich vorzustellen, strikten Gehorsam zu leisten hatten. Andernfalls würden sie ihre Zeit nicht in den beheizten Werkshallen verbringen, sondern in einem dunklen, kalten Loch. Zur Abschreckung der Deportierten hatte man es in der Mitte des Lagers in einem milden Sommer ausgehoben, um es im Winter nur mit einem Wellblech zu bedecken, wenn man einen ungehorsamen Häftling in die zwei Meter tiefe Grube stieß. Dort hatte er dann Zeit, unter den Augen der täglich vorbeiströmenden Mitgefangenen über seine Verfehlungen nachzudenken. Und als ob es einer Demonstration bedurft hätte, wurde genau zu dem Zeitpunkt, als die Neuankömmlinge über den Hof zu ihren bescheidenen Unterkünften gescheucht wurden, eine Leiche, steif gefroren wie ein Brett, aus dem Loch gezogen. Im Vorbeigehen konnte Leonard sehen, wie Kissanka einen unterdrückten Schrei hervorpresste, als ihr Blick auf den Toten fiel. Den jungen Mann, kaum älter als zwanzig, mit kahl geschorenem Kopf und bis auf die Knochen abgemagert, hatte man nur mit dünner Häftlingskleidung versehen in seinem Gefängnis regelrecht verenden lassen. Vermutlich hatte er nicht allzu lange in diesem Loch zubringen müssen. Bei Temperaturen von unter minus fünfzig Grad reichte wahrscheinlich eine einzige Nacht, um zu erfrieren.
»Was machen die bloß mit uns?« Pjotr war die Panik anzusehen, die ihm schon seit längerem zu schaffen machte.
»Reiß dich zusammen, du Memme!« Aslan versetzte Pjotr einen derben Stoß in die Rippen, bevor sie im Gänsemarsch eine der vielen Baracken erreichten.
Leonard erlaubte sich einen Blick in die Umgebung. Die Lagerlampen wurden offenbar nicht mit Gas, sondern mit Elektrizität betrieben. Und auch sonst wirkten die Bauten und deren Versorgung ungewöhnlich fortschrittlich. Oberirdische Elektrizitätsleitungen, wohin man auch sehen konnte. Saubere, gepflasterte Wege, die alle zu jener riesigen Halle führten, die ihn bereits bei der Anfahrt beeindruckt hatte.
Kissanka führte man zusammen mit den anderen Frauen in einen abgeschlossenen Trakt, der nochmals von einem hohen Zaun umgeben war. Leonard hatte ihr einen letzten, mutmachenden Blick zuwerfen |157| können und hoffte inständig, dass man den Jungen bei ihr ließ und ihn nicht in ein Männerhaus zu ihrem unberechenbaren Vater steckte.
Wassiljoff und die übrigen
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