Schandtat
doch unter der Dusche, oder?«
»Ja, wahrscheinlich.«
»Wenn Sie wollen, haben wir noch einen Platz für Sie frei. Das heißt, es hängt von Ihrem Stimmumfang ab. Der Hauptchor ist wirklich nicht schlecht. Zwar nicht auf dem Niveau des Elitechors, aber bei Wettbewerben halten sie sich ziemlich gut.«
Mein Interesse schwand plötzlich dahin. »Ich singe nicht so gut mit anderen zusammen.«
Lächelnd zog sie die Augenbrauen hoch. »Nun ja, Chorsingen ist eine Gruppenaktivität, wie Sie wissen. Es sei denn natürlich, Sie wären Solistin, aber diese Plätze sind alle besetzt.«
Ich zuckte die Achseln. »Ich bin Solistin.«
Sie zog die Stirn in Falten. »Wissen Sie, Poe, es bedarf einer jahrelangen Ausbildung, um ein guter Solist zu werden. Die vier Solisten, die wir jetzt haben, singen seit dem Kindergarten. Tatsächlich sind wir eine der wenigen Schulen im ganzen Land, die überhaupt Solistenplätze anbieten. Sind Sie sicher, dass Sie es nicht mit dem Hauptchor versuchen möchten?«
»Ich bin mir sicher.« Ich blickte zur Tür. »Ich muss jetzt los. Tschüss.«
Sie nickte. »Na schön. Aber würden Sie mir noch einen Gefallen tun?«
»Bitte?«
»Als ich mich mit Ihrem Vater unterhalten habe, hat er mir erzählt, dass Sie die Sängerin in einer kleinen Band waren, und mich gebeten, mir Ihren Gesang anzuhören, bevor irgendwelche Entscheidungen getroffen würden. Werden Sie für mich singen?«
Ich hätte einfach gehen sollen, aber ich hatte ja einen Deal gemacht. Nein, ich lüge. Ich wollte singen. Ich wollte es ihr in ihren Truthahnhals stopfen. »Sind Sie sicher? Ich möchte nicht Ihre Zeit verschwenden. Schließlich bin ich nicht professionell ausgebildet.«
Sie führte mich weiter in den Raum hinein, ignorierte den Seitenhieb und setzte sich ans Klavier. »Seien Sie nicht so streng mit sich selbst. Die Akustik in diesem Raum ist eigens für Gesang konzipiert worden und lässt einfach jeden gut klingen. Warum gehen Sie nicht auf die Bühne und stellen sich möglichst in die Mitte?« Ich stieg hinauf, halb versucht, in meiner besten Imitation von Donald Duck zu singen. Dann würden wir ja sehen, wie gut mich diese Wände klingen ließen. Mit auf dem Schoß gefalteten Händen saß sie da. »Was würden Sie gern singen?«
Ich dachte kurz nach. »›Bridge over Troubled Water‹ von Simon and Garfunkel.«
»Ein schwieriges Stück.«
Ich zuckte die Achseln.
»Also gut. Ich spiele die Melodie auf dem Klavier.«
»Ich brauche keine Begleitung.«
Sie starrte mich an, lächelte dann und nickte. »Na schön. Fangen Sie an, sobald Sie so weit sind.«
Vor diesem Treffen hatte ich mich noch - unter sonderbaren Blicken - in der Mädchentoilette aufgewärmt. Ich war also bereit. Ich fing einfach an, und wie immer hatte ich nach zwanzig Sekunden den Kontakt zur Realität verloren. Das Einzige, was ich noch wahrnahm, war das Gefühl, das mir meine Stimme gab. Als könnte ich mit meinem Gesang Perfektion finden, wenn es so etwas in dieser schmutzigen Welt überhaupt gab. Als könnte ich mit diesem Lied ein Gebäude niederreißen oder einen Schmetterlingsflügel streicheln.
Als ich schließlich meine Klappe hielt und zu singen aufhörte, starrte Mrs Baird mich sprachlos an. Dann durchbrach sie die Stille. »Ich fürchte, ich schulde Ihnen eine Entschuldigung.«
Ich griff nach meiner Tasche. »Kein Interesse.«
Sie stand auf. »Es tut mir leid. Ich hatte nicht erwartet …«
»Ich hab’s Ihnen doch gesagt, ich hab kein Interesse.«
Aufgeregt und mit glänzenden Augen stolperte sie auf mich zu. »Ich möchte Sie als erste Solistin in diesem Chor haben. Im Elitechor. Ihre Lage war perfekt, Ihr Stimmumfang ist unglaublich, und ich habe nicht einen unreinen Ton gehört. Keinen einzigen. Wie viele Oktaven umfasst ihre Stimme?«
»Ich habe keine professionelle Ausbildung, schon vergessen? Das dauert Jahre.«
Ein Anflug von Ärger flackerte in ihren Augen auf. »Ich habe lediglich gesagt, dass die Konkurrenz um diese Plätze sehr groß sei.«
»Nein, das haben Sie nicht. Sie haben gesagt, ich hätte im Leben keine Chance, und die Plätze seien alle vergeben. Sie haben diese Entscheidung bereits in dem Augenblick gefällt, als ich durch die Tür trat und Sie mich von Kopf bis Fuß gemustert haben.«
Ihre Kiefermuskeln spannten sich an. »Na ja, sie sind auch vergeben. Oder waren es. Aber ich will nicht um den heißen Brei herumreden. Sie sind besser als die anderen, und auch wenn Sie es vielleicht nicht glauben,
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