Scharade der Liebe
er. »Das glaube ich nicht. Du bist genauso wenig Jack wie ich.« Gray beugte sich vor und blickte fassungslos auf das Mädchen, das er im Stall am liebsten zusammengeschlagen hätte. »Du bist eine verdammte Frau. Ich hätte dich umbringen können. Du wolltest mein Pferd stehlen. Warum? Wer, zum Teufel, bist du?«
Sie stöhnte.
5
»Was fehlt dir? Wach auf!«
Er klopfte ihr leicht auf die Wangen. »Komm schon, öffne die Augen.« Sie stöhnte wieder und wandte ihr Gesicht ab. Sie war ganz nass. Das war nicht gut. Er war allerdings keine große Hilfe, weil er selbst nass bis auf die Haut war und keinen trockenen Faden am Leib trug.
Er drückte ihr die Handfläche auf die Stirn und die Wangen. Sie hatte kein Fieber. Wieder sagte er, dieses Mal direkt in ihr Ohr: »Wach auf. Ich mag das nicht. Ich bin hinter dir hergeritten, weil du Durban gestohlen hast, und jetzt tust du einfach so, als seist du krank. Und du besitzt auch noch die Frechheit, eine Frau zu sein. Verdammt noch mal, wach endlich auf!«
Sie schlug die Augen auf. Es tat weh. Die Stimme des Mannes klang sehr wütend. Zuerst hatte sie geglaubt, es sei die Stimme ihres Stiefvaters, aber dann merkte sie, dass er es nicht war. Als ihr Blick klarer wurde, sah sie sein Gesicht direkt vor ihrer Nase. Er sah besorgt aus. Warum?
Dann drehte sich ihr der Magen um, und sie richtete sich auf. Er packte sie an den Armen und drückte sie wieder zurück. »Mir ist übel«, sagte sie, und er zog sie rasch wieder hoch. Sie holte tief Luft und zitterte. Nein, sie würde sich nicht übergeben. Sie schluckte, holte wieder tief Luft und sagte dann: »Die Großtanten wissen davon nichts. Bitte sagt ihnen nichts.«
»Und warum nicht? Sie haben einen Dieb als Kammerdiener verkleidet, und du bist auch noch ein Mädchen. Nennen sie dich deshalb Verrückter Jack? Weil du solche verrückten Sachen machst? Dich wie ein Junge anziehst? Du meine Güte, was geht hier nur vor? Wer bist du, verdammt noch mal?«
»Hört auf zu fluchen.« Ihr Kiefer und ihr Kopf schmerzten, ihre Rippen taten weh, und sie wollte einfach nur die Augen schließen und aufs Stroh zurücksinken. Zudem war ihr kalt, das war das Schlimmste von allem -nicht ihre Rippen, nicht ihr Magen, der sich zusammenkrampfte. Ihr war kalt, und sie wusste nicht, was sie dagegen tun sollte.
Sie blickte ihn an und sagte: »Mir ist kalt. Bitte, habt Ihr eine Decke oder so etwas?«
»Ich bin genauso nass wie du, und ich friere auch genauso. Woher soll ich hier eine Decke nehmen? Weißt du überhaupt, wo wir hier sind?«
»In einem alten Schuppen. Durban hat mich hierher gebracht. Wir können nicht allzu weit von Folkstone entfernt sein.«
»Hier, ich decke dich wieder mit Stroh zu.« Er schwieg einen Augenblick lang, als ein heller Sonnenstrahl über sein Gesicht glitt. »Es regnet nicht mehr. Na gut. Ich habe zwar keine Ahnung, wo wir sind, aber es kann auf keinen Fall in der Nähe von Folkstone sein. Wir sind irgendwo westlich von London.«
»Nein, wir sind südlich von London.«
»Wenn du ein Mann wärst, würdest du instinktiv wissen, in welche Richtung du dich gewendet hast. Bei Männern funktioniert das automatisch, es ist sozusagen angeboren. Aber du bist eben kein Junge, sondern ein verdammtes Mädchen, und du hast Durban nach Westen gelenkt. Auf die Straße über Reading nach Bath.«
Sie stöhnte und schloss die Augen. »O Gott.« Dann öffnete sie die Augen wieder und blinzelte. »Wisst Ihr wirklich immer automatisch die Richtung, weil Ihr ein Mann seid?«
»Natürlich. Ohne Männer würden Frauen nicht einmal nach Hause finden. Es ist schlimm, aber so ist es nun mal. Und jetzt zieh dir so viele Kleidungsstücke aus, wie du kannst, und ich hänge sie nach draußen, damit sie trocken werden. Etwas anderes bleibt uns nicht übrig, also beeil dich. Oh, deine Rippen. Brauchst du Hilfe?«
»Nein, geht weg.«
»Gut«, sagte er und stand auf. »Ich ziehe mich selbst auch aus.«
Er hörte, wie sie hinter ihm scharf ausatmete. Als er herumwirbelte, sah er gerade noch, wie sie zusammenbrach, er konnte sie jedoch nicht mehr rechtzeitig auffangen, bevor sie wieder aufs Stroh fiel. Er stieß eine ganze Serie von Flüchen aus, und sie flüsterte: »Ihr flucht schon wieder.«
»Ich fluche, weil mir nichts anderes übrig bleibt. Ein Mann muss das tun, wenn er nicht versteht, was eigentlich vor sich geht oder warum dies oder jenes gerade ihm passieren muss, obwohl er doch eigentlich völlig unschuldig ist. Er muss sich
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