Scharade
entnahm.
Diese Aussage sorgte für einigen Aufruhr im Verhandlungssaal. Der Richter schlug mit seinem Hammer und bat um Ruhe. Der assistierende Staatsanwalt versuchte vergeblich, Gelassenheit zu zeigen. Nach Alexâ Ansicht hätte die Staatsanwaltschaft besser auf Totschlag und nicht auf Mord plädieren sollen. Mord implizierte stets einen Vorsatz, der in diesem Fall nicht nachgewiesen werden konnte.
Trotzdem lieferte der Staatsanwalt ein überzeugendes Plädoyer und drängte die Geschworenen, den Angeklagten im Sinne der Anklage schuldig zu sprechen. Ob das Opfer nun im Moment des Angriffs gestorben war oder nicht â Paul Reyes war verantwortlich für den Tod eines Menschen und daher schuldig.
Die Verteidigung muÃte die Geschworenen nur daran erinnern, wieder und wieder, daà Paul Reyes im Gefängnis gesessen hatte, als das Opfer tatsächlich gestorben war.
Nach einer dreitägigen Verhandlung muÃten die Geschworenen entscheiden. Vier Stunden und achtzehn Minuten später wurde verkündet, daà die Jury zu einem Urteil gekommen sei, und Alex war als einer der ersten wieder im Gerichtssaal.
Er versuchte, die Stimmung der einzelnen Geschworenen zu erraten, als sie ihre Plätze wieder einnahmen, doch es war unmöglich, in ihren leeren Mienen ihre Entscheidung abzulesen.
Atemlose Stille herrschte, als der Angeklagte aufgefordert wurde, sich zu erheben.
Nicht schuldig.
Reyesâ Knie gaben leicht nach, sein triumphierender Verteidiger stützte ihn. Verwandte und Freunde eilten herbei, um ihn zu umarmen. Der Richter dankte den Geschworenen und entlieà sie.
Reporter drängelten sich vor wegen Stellungnahmen, doch Reyesâ Anwalt ignorierte sie und schob seinen Mandanten
durch den Mittelgang aus dem Saal Richtung Ausgang. Als Reyes an Alexâ Stuhlreihe vorbeikam, muÃte er dessen Blick gespürt haben.
Plötzlich blieb er stehen, drehte den Kopf, und für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke.
Kapitel 6
Mai 1991
Â
Essen. Schlafen. Atmen. Diese lebensnotwendigen Funktionen erfolgten rein mechanisch. Wozu auch mehr? Das Leben hatte jeden Sinn verloren.
Es gab keinen Trost mehr â weder in Religion, Meditation, Arbeit, noch in ermüdendem Sport oder Raufereien. Alles war ausprobiert worden als Mittel, den zermürbenden Schmerz des Verlustes zu betäuben. Doch vergeblich.
Es gab keinen Frieden. Jeder Atemzug war voller Trauer. Die Welt war reduziert auf eine winzige Sphäre demütigen Leids. Nur sehr wenige Aufheiterungen drangen durch diesen betäubenden Schmerz. Für einen so tief in Trauer versunkenen Menschen wirkt die Welt monochrom, lautlos, fad und öde. Der Schmerz saà so tief, daà er buchstäblich lähmte.
Der viel zu frühe Tod war ungerecht gewesen und hatte ihn mit unendlicher Wut erfüllt.
Warum hatte es sie treffen müssen? Nie hatten sich zwei Menschen so sehr geliebt. Ihre Liebe war selten und rein gewesen und hätte noch Jahre â und dann über den Tod hinaus â währen sollen. Sie hatten darüber gesprochen, hatten einander ewige Liebe geschworen.
Nun war die Unsterblichkeit ihrer Liebe unmöglich geworden,
weil der Behälter, in dem sie ruhte, herausgenommen und einem anderen Menschen eingepflanzt worden war.
Eine Grausamkeit, dieser postmortale Vandalismus. Zuerst des Lebens beraubt, dann des Kerns der Existenz; beraubt der Kammer, wo dieser Geist gewohnt hatte.
Nun schlug dieses geliebte Herz irgendwo in der Brust eines fremden Menschen.
Stöhnen erklang leise in dem kleinen Zimmer. »Ich ertrage es nicht mehr. Ich kann nicht...«
Auch wenn der geliebte Mensch eines Tages tot ins Grab gesenkt worden war, so lebte das Herz weiter. Das Herz lebte weiter. Ein unheimlicher Gedanke, grausam, erschütternd und unentrinnbar.
Das Skalpell des Chirurgen war flink und präzise gewesen. So schmerzlich es auch war, es zu akzeptieren â es konnte nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Das Herz lebte weiter, während die Seele auf unfaire Weise dem Untergang geweiht gewesen war. Die Seele würde endlos und vergeblich nach einer Heimat suchen, während das noch immer schlagende Herz fortfuhr, die Unantastbarkeit des Todes zu verspotten. Es sei denn...
Es gab einen Weg!
Plötzlich lieà das Klagen nach.
Der Atem wurde heftig und schnell vor Aufregung.
Der trauernde Mensch lauschte den plötzlich eintretenden wilden,
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