Schartz, S: Elfenzeit 20: Der Atem der Unsterblichkeit
traf sie vor dem Getreuen bei den anderen ein …
Ohne das Trugbild des Verhüllten nur eines weiteren Blickes zu würdigen, machte Nadja sich an den Aufstieg. Schon nach wenigen Minuten kam sie außer Atem; der Schweiß brach ihr aus, und sie wickelte sich das Tuch noch fester um den Kopf und Mund und Nase, um nicht zu viel kostbare Flüssigkeit verdunsten zu lassen. Ohne die Sonnenbrille würde der helle Sand sie blenden. Das war aber auch das einzige Tröstliche. Es ging steil bergauf, und immer wieder rutschte der Sand unter ihr weg. Zwei Schritte hinauf, mindestens einen wieder nach unten gesunken. Sie kam sich vor wie die Schnecke in der Rechentextaufgabe aus der dritten Klasse.
Irgendwann hatte sie sich auf halbe Höhe emporgekämpft, als ihr – nun erst! – einfiel, dass es rings um den Knoten, wo sie und die anderen sich auf die Lauer gelegt hatten, überhaupt keine so hohen Dünen gegeben hatte.
Nadja stand kurz vor der Panik. Wo hatte der Getreue sie nur hingelockt? Wie sollte David sie je finden, falls er überhaupt Gelegenheit dazu fand? Welcher Weg führte zurück?
Erst nach oben
, dachte sie.
Ich muss mir einen Überblick verschaffen. Sicher finde ich etwas Vertrautes, woran ich mich orientieren kann. Dann sehe ich weiter. Nur die Ruhe
.
Sie machte sich selbst Mut, sagte sich, dass sie schon ganz andere Dinge überstanden hatte. Die einsame Wanderung durch Annuyn war die einprägsamste Erfahrung dieser Art gewesen.
Ich schaffe das. So kurz vor dem Ziel scheitere ich nicht mehr
.
Und dieser Moment war noch nicht einmal der Höhepunkt der Mission. Nein. Dies konnte nicht das Ende sein, durfte es nicht. Nadja presste die Lippen aufeinander und stapfte energisch weiter.
Auf allen vieren kam sie endlich oben an. So hoch hatte die Düne von unten gar nicht gewirkt, doch nun war die Welt weit weggerückt. Nichts kam Nadja auch nur im Entferntesten vertraut vor. War sie überhaupt noch in Warqla? Zumindest gab es da unten Straßen und Häuser, die auf die Entfernung daran erinnerten. Aber das Umland war ganz anders.
»Wie hat er das gemacht?«, fragte sich Nadja. »Wie hat er mich hierher gebracht, und was genau bezweckt er damit? Überlässt er mich jetzt meinem Schicksal, während er David und die anderen fertigmacht?«
Spekulationen waren müßig. Die tatsächlich bedeutende Frage lautete: Wie kam sie wieder zum Knotenpunkt zurück? Vor allem brauchte sie so bald wie möglich Wasser. Die Sonne stand im Zenit und brannte erbarmungslos auf die junge Frau herab.
Langsam drehte Nadja sich um die eigene Achse – und da sah sie den Getreuen erneut. Sein Umhang flatterte in einem plötzlichen Windstoß, und seine Konturen verschwammen leicht in der flirrenden Hitze. Er stand zwischen zwei Dünen, wie zuvor mit dem Rücken zu ihr. Ein erneutes Trugbild? Wollte er sie noch weiter fortlocken, so lange, bis sie verdurstet in der Wüste lag?
Das konnte sie nicht glauben. Der Getreue wollte sie nicht töten – vor allem nicht so. Das passte nicht zu ihm. Also was ging dann vor sich? Wieso war er an diesem Ort?
Er kann es nicht sein. Wahrscheinlich sehe ich eine Fata Morgana. Aber wenn es eine ist, warum kann ich dann David und die anderen nicht sehen? Wieso wird nur der Getreue abgebildet?
Sie wusste selbst, dass sie vermutlich gerade die nächste Dummheit beging, aber sie musste es wissen. Und das schnell. Also sprang sie ein Stück die Düne hinab, sank mit den halbhohen Stiefeln bis zu den Unterschenkeln ein, doch der Schwung trug sie weiter, wie sie es beabsichtigt hatte. Der Weg nach unten war in kürzester Zeit zurückgelegt und weniger schweißtreibend als der Aufstieg. Nadja ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, und stürmte den Dünenhang quer nach unten. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass sie einer Fata Morgana aufsaß, die der Getreue aber diesmal nicht absichtlich herbeigeführt hatte. Vielleicht führte sie Nadja wieder auf die richtige Spur, sobald sie die Stelle erreichte.
Sie gab sich gar nicht erst Mühe, sich anschleichen zu wollen; das war sowieso unmöglich. Stattdessen sammelte Nadja ihre Kräfte und lief durch den aufstiebenden Sand auf den Getreuen zu. Und tatsächlich schien sie ihm näher zu kommen! War das bei einer Fata Morgana überhaupt möglich? Vielleicht sollte sie ihm etwas zurufen, um sich zu überzeugen.
Doch da hörte er sie bereits, wahrscheinlich ihren laut keuchenden Atem und das Stampfen ihrer Schuhe, denn sein Kopf hob sich.
Der Getreue
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