Schatten Blut
Vorsichtig schaute ich auf und sah in Ernestines besorgtes Gesicht.
»Es ist vorbei«, raunte sie mir zu. »Du bist hier und in Sicherheit.«
»Was ist das für ein ausgemachter Irrsinn.« fragte ich verzweifelt und sah Ernestine fordernd an. »Warum passiert mir dauernd dieser Mist? Oder haben Sie mir etwas in den Tee getan, das so etwas bewirkt.«
»Beruhige dich. Im Tee war lediglich etwas Salbei. Es ruft weder Visionen hervor noch versetzt es den Geist an andere Orte. Das vermag Salbei nur, wenn damit geräuchert wird. Aber sag, seit wann hast du diese Erscheinungen.«
Ich befreite mich aus ihrer Umarmung und setzte mich zurück in den Sessel. Mein Augenmerk fiel auf die Teetasse, die nun in zwei Hälften zerbrochen auf dem Boden lag. Ernestine folgte meinem Blick und lächelte nachsichtig. »Mach dir deswegen keine Gedanken. Ich habe mehrere davon. Nun?«
»Ich weiß nicht genau«, antwortete ich nachdenklich und stützte das Gesicht in den Händen ab. »Ich habe schon immer wirr geträumt. Aber seit zwei Nächten ist es fast unerträglich. So gespenstisch real. Ich kann es schlecht beschreiben.«
Ihre Hand berührte meinen Arm. Ich sah auf und erkannte Mitgefühl in ihren grauen Augen. »Es ist eine Gabe, Kindchen. Nur Wenigen ist der Blick auf die andere Seite gegönnt. Und noch Weniger können damit umgehen. Einige sind daran zerbrochen.«
Das waren ja tolle Aussichten!
»Schönen Dank auch.« meldete sich mein Ärger erneut. »Wenn es eine Gabe ist, dann kann ich die doch sicher zurückgeben, oder? Ich will sie nämlich nicht haben.«
Diesmal lachte sie leise. »Leider muss ich dich enttäuschen. Eine Gabe kann nicht zurückgegeben werden. Sie kann lediglich brachliegen, ungenutzt bleiben. Doch in deinem Fall«, fügte sie hinzu und wurde ernster, »wäre es angebracht, du würdest lernen damit umzugehen, sie dir zunutze zu machen.«
Das war genau das, was ich ungern hören wollte. Aber innerlich fühlte ich, dass Ernestine Recht hatte. Die Frage aller Fragen war jedoch: Wie?
»Was genau habe ich da gesehen.« fragte ich und tat den ersten, vorsichtigen Schritt in die Richtung Verstehen. »Wenn es eine Vision war, dann muss sie mir doch etwas sagen. Haben Sie es ebenfalls gesehen.«
»Nur den Teil, der dir die Vergänglichkeit allen Lebens zeigte. Dann bist du über eine Schwelle getreten, über die ich dir nicht folgen konnte.«
»Was für eine Schwelle?«
»Ich nenne sie den Spiegel, andere sagen dazu die Schwelle des Todes, oder des Reiches, in dem das Leben endet, die Zeit stehen bleibt und der Tod beginnt.«
Hätte ich nicht vorher schon Angst gehabt, würde ich spätestens jetzt Fracksausen ohne Ende bekommen.
»Danke für Ihre schonungslose Offenheit, Ernestine.« Ich schluckte hart. »Lässt sich dieses Reiseziel eventuell noch umbuchen.« Als sie verneinend den Kopf schüttelte, seufzte ich resigniert. »Dachte ich mir fast.«
Abermals lachte sie leise und tätschelte mir das Knie. »Nur die Auserwählten treten über die Schwelle und kommen auch wieder zurück. Und du bist doch zurück, hm? Magst du noch etwas Tee.«
Ich lehnte dankend ab. Aber was sie gesagt hatte, stimmte mich sehr nachdenklich. »Ernestine? Sie sagten, Sie könnten die Schwelle nicht überschreiten. Aber wie bin ich da wieder herausgekommen? Ich sah jemanden, der mich schützte. Bis eben dachte ich, Sie wären das gewesen.«
»Dich hat jemand beschützt.« Sie wirkte offen erstaunt. »Interessant! Ich selbst bin so etwas Ähnliches wie ein Wächter. Wächter können Wege versperren oder freigeben, aber niemals selbst hindurch gehen. Und auch diese Macht ist begrenzt. Es tut mir sehr leid, dass ich diesmal nicht in der Lage war, den Weg zu verschließen. Aber wer hat dich beschützt.«
»Eine gute Frage.« gab ich zurück und gab ihr eine Schilderung dessen, was ich gesehen hatte. Sie nickte mehrmals und schüttelte schließlich den Kopf. »Nein, da kann ich dir vorerst leider nicht weiterhelfen. Alles, was ich für dich tun kann, ist so viele deiner Fragen wie möglich zu beantworten.«
Das war ein Deal, mit dem ich leben konnte.
– Kapitel Sieben –
R outine ist das Beste, was in Momenten der totalen Verwirrung hilft! Zumindest hat meine Mutter das immer behauptet. Also machte ich das, was ich normalerweise tat, wenn ich freihatte. Nämlich arbeiten!
So machte ich mich als Erstes auf die Suche nach dem Telefon. Wie jeden Tag.
Im meinem Zimmer war es nicht, im Wohnzimmer ebenfalls nicht. In der Küche
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