Schatten Der Erinnerung
der Bibel schwören, dass ich vor wenigen Minuten nicht einen einzigen gentlemanhaften Gedanken hatte und mein Benehmen hart an der Grenze des Schicklichen war.«
Sie öffnete den Mund zu einer Antwort, schloss ihn aber wieder. Was sollte sie sagen? Ihre Gedanken waren ebenfalls nicht gerade damenhaft gewesen. Im Gegenteil, sie wurden es mit jeder Sekunde weniger. War sein Benehmen an der Grenze gewesen? Ihres war sicherlich jenseits davon gewesen. Schließlich flüsterte sie: »Wir vermögen unsere Gedanken nicht immer abzustellen, aber unsere Handlungen können wir beherrschen. Das allein zählt.«
Er warf ihr einen düsteren Blick zu, der gleichzeitig herausfordernd und skeptisch war.
Regina betrachtete nervös ihre Hände. Er hatte jedes Recht, an ihr zu zweifeln. Dennoch wollte sie sich bei ihm entschuldigen. »Es tut mir leid, dass ich weggelaufen bin. Das war dumm von mir, aber ich hatte Angst und war völlig verwirrt.«
»Niemand wird Sie zwingen, mich zu heiraten«, sagte er rau.
»Ich ... das habe ich auch überhaupt nicht angenommen.«
»Sie waren derart außer Fassung, dass Sie zu Pferd fliehen wollten, obwohl Sie eine schlechte Reiterin sind. Vor lauter Aufregung haben Sie sich die Füße blutig gelaufen. Ich würde sagen, Sie waren nicht nur einfach aufgebracht, sondern zum Äußersten entschlossen.«
Darauf musste sie ihm die Antwort schuldig bleiben, denn sie war wirklich wild entschlossen zur Flucht gewesen.
Den Anlaß dafür konnte sie nicht mehr verstehen.
»Ändern Sie gerade Ihre Meinung?«
»Ich weiß nicht«, flüsterte sie.
Ihre Blicke hielten einander stand, aber er sah jetzt finster drein. »Der Zug in Richtung Süden fährt zweimal am Tag durch Templeton. Den Morgenzug werden Sie nicht schaffen, aber den am Abend können Sie erreichen. Rick hat einen Fahrplan, ich werde gleich nachsehen.«
Sie hatte das Gefühl, dass er sie unbedingt zum Zug bringen wollte. »Vie ... vielleicht sollte ich mich morgen ausruhen und am Tag darauf abfahren.«
»Ich werde Sie morgen hinbringen«, sagte er bestimmt, »bevor die Dinge wirklich außer Kontrolle geraten.«
Sie verstand nur zu gut. Genau wie sie wusste auch er, dass zwischen ihnen Verlangen erwacht war, und zwar ein gefährliches Verlangen, das sich nicht einfach in Luft auflösen würde. Sie konnten nicht unter einem Dach wohnen, ohne das Schicksal herauszufordern. Er hatte beschlossen, dass sie sein Haus so schnell wie möglich verlassen sollte. Offenbar hatte er sich nun entschieden, sie nicht zu heiraten.
Sie senkte den Blick, damit er nicht sehen konnte, dass sie wirklich verletzt war. Dafür gab es allerdings keinen Grund, denn eine Heirat kam ja doch nicht in Frage. Sie sah erst wieder auf, als er den Raum durchquert und die Tür energisch hinter sich zugezogen hatte.
Verstört fiel Regina in ihre Kissen zurück. Dabei sollte sie doch erleichtert sein darüber, dass er die Sache in die Hand genommen hatte und sie zur Abreise zwang. Dennoch war sie nicht froh, sondern innerlich zerrissen, verwirrt und bestürzt. Was wäre, wenn sie bliebe und ihn heiratete? 0 Gott, was für Gedanken hatte sie?
Sie hatte keine Zeit, über diese entsetzliche Wendung nachzugrübeln, denn plötzlich klopfte es an ihre Tür. Auf Reginas Aufforderung hin trat eine Frau ein. Sie hatte helle Haut schwarze Haare und war nur ein paar Jahre älter als Regina. Ihr einfacher Rock, Hemdbluse und Schürze verrieten, dass sie zum Dienstpersonal gehörte. Das Mädchen stellte ein Tablett auf den kleinen Holztisch neben der Balkontür. Mit einer leichten Wendung richtete sie den Blick auf Regina.
Regina setzte sich auf. »Sie müssen Lucinda sein. Vielen Dank, das Essen riecht köstlich.«
Lucinda murmelte eine Antwort. Regina hatte das untrügliche Gefühl, dass das Mädchen sie genau betrachtete, konnte aber keine Erklärung dafür finden.
»Brauchen Sie noch etwas?« fragte Lucinda. »Darin werde ich Ihnen jetzt Ihr Bad einlassen.«
Als Regina den Kopf schüttelte, ging das Mädchen sofort aus dem Zimmer. Regina schlüpfte aus dem Bett. Ihre Füße pochten vor Schmerz, und das Gehen fiel ihr sehr schwer. Sie humpelte durch den Raum und setzte sich an den Tisch. Aber nach einer Mahlzeit war ihr jetzt überhaupt nicht zumute. Sie grübelte darüber nach, was sie tun sollte - und was sie tun wollte.
Slade weckte sie am nächsten Morgen. Er kam geradewegs in ihr Zimmer und riss die Balkontüren auf; so dass plötzlich das strahlende Sonnenlicht hereinfiel.
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