Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)
Schultern.
»Das ist wirklich sehr… anders«,
antwortete ich auf seinen fragenden Blick.
»Mein Gott Herzchen, natürlich ist es
das! Sieh dich doch nur mal an, wie deine blauen Augen jetzt leuchten. Damit
bist du echt der Hit!«
Es fiel mir schwer in der Frau im
Spiegel mich selbst zu erkennen. Aber war ich nicht genau deshalb hier?
Als es darum ging, dieses Wunder zu
bezahlen, blieb mir noch einmal kurz die Luft weg. Dass man für ein bisschen
Haareschneiden so viel Geld verlangen konnte, war mir neu. Aber irgendwie
mussten ja die Cyber-Liegen abbezahlt werden. Noch etwas, dass ich Jessica bei
der nächsten Gelegenheit um die Ohren hauen würde.
»Ach Herzchen, es hat mir wirklich
viel Spaß mit dir gemacht«, umarmte mich Jacques zum Abschied. »Und grüß
Jessica von mir. Ach und wenn du deinen Verflossenen zu Gesicht bekommst, musst
du mir beim nächsten Mal unbedingt erzählen, wie er reagiert hat!«
»Das wird nicht passieren. Er ist tot«,
sprach ich und verließ den Salon, einen erstarrten und sprachlosen Jacques
zurücklassend.
* * *
Das waren also die übrig gebliebenen
Fetzen meiner einstigen langen Mähne. Aber ich hatte es ja nicht anders
gewollt. Ich hatte ihm völlig freie Hand gelassen. Was war ich doch für ein
Idiot!
Nachdem ich nach Hause gekommen war,
hatte ich das ganze Ausmaß in Ruhe im Spiegel begutachtet. Doch alles war so
gestylt und von Haarspray festbetoniert, dass ich mir kaum vorstellen konnte,
wie es in echt aussehen würde. In der wahren Welt, wenn kein gelernter Friseur
jeder Strähne ihren Platz zuwies. Um am nächsten Morgen nicht einen völligen
Schock zu erleiden, hatte ich mir die Haare gewaschen.
Und nun stand ich vor dem Spiegel und
sah mir selbst in meine blauen Augen. Eines musste man Jacques lassen. Jetzt wo
die Haare nicht mehr so übermächtig waren, kam ihre Farbe wirklich mehr zur
Geltung. Wie zwei strahlende Aquamarine sahen sie mich nun skeptisch an. Das hast du also gewollt, schienen sie mir strafend zuzuraunen.
»Was hab ich mir nur dabei gedacht«,
flüsterte ich ihnen zu und zupfte an meinen Haaren.
Es war fast so, als schienen sie sich
an ihre alte Form zu erinnern. Ob sie sich jemals mit der neuen Situation
arrangieren würden? Ich konnte es ja selbst kaum. Jede Welle lag immer noch so
da, als würden ihr weitere Zentimeter folgen. Nichts mehr war von der gestylten
Frisur zu erkennen, bei der meine Haare einen eleganten Rahmen, um mein Gesicht
vollzogen hatten. Das war eine Katastrophe. Vorbei die Zeit, in der eine Bürste
für das morgendliche Styling genügte.
Ich versuchte das was noch übrig
geblieben war zu einem Zopf zusammenzufassen. Vielleicht könnte ich so das
alles kaschieren bis sie wieder länger waren. Aber es war hoffnungslos. Ich
beugte mich über das Waschbecken und schlug mir eine Fuhre kaltes Wasser ins
Gesicht. Halb blind tastete ich nach meinem Handtuch, tupfte mir das Gesicht ab
und richtete mich wieder auf.
Es traf mich wie ein Schlag, ich war
unfähig mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen.
Da stand er, ich sah ihn neben meinem
Spiegelbild stehen, direkt hinter mir und er sah mich belustigt an. Ebenso wie
ich einen Moment zuvor musterte er kritisch meine neue Frisur. Doch im
Gegensatz zu meinen eigenen Augen, schien ihm das Ergebnis nicht im Ansatz so
sehr zu entsetzen wie mich.
Ich hingegen war mehr als nur
entsetzt.
Unwillkürlich drehte ich mich um,
aber da war niemand.
Langsam wand ich mich wieder dem
Spiegel zu und tatsächlich, da war er wieder und stand seelenruhig hinter mir –
Robert.
Ich blinzelte mehrfach, aber nichts
änderte sich daran.
»Es sieht doch gar nicht so schlecht
aus« , schallte es in
meinem Kopf.
Es war nicht das fade Echo, das mein
Gedächtnis sonst immer produzierte, wenn ich an ihn dachte. Es war eindeutig
der Klang seiner Stimme – und sie klang so echt!
»Was…«, setzte ich an, doch der Mann
im Spiegel legte nur einen Finger auf seine Lippen. Wieder blickte ich hinter
mich, aber dort stand immer noch niemand. Ich war allein – und doch stand er
vor mir. Oder hinter mir? Was war hier bloß los?
»Sag nichts. Lass mich diesen Anblick
noch einen kurzen Moment genießen.«
Dieser Klang – es war eindeutig seine
Stimme. Sie klang so nah und brannte sich in meinen Kopf.
Mein ganzer Körper fing an zu beben
und ich musste mich am Waschbeckenrand festhalten, um nicht augenblicklich
umzufallen. Verkrampft umschlangen meine Finger die kalte Keramik. Mein Atem
ging immer schneller
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