Schatten der Liebe
Stipendium eher verdient«, trieb sie ihr Projekt weiter voran. »Und«, sie überlegte einen Augenblick und fuhr dann, einer plötzlichen Intuition folgend fort, »wenn wir nichts für Lisa tun, wird sie sicher eines Tages von der Fürsorge abhängig!« Fürsorge war ein Thema, auf das ihr Vater unbedingt negativ reagierte. Meredith hätte ihm zu gerne mehr über Lisa erzählt, auch, wieviel ihr diese Freundschaft bedeutete, aber ein sechster Sinn hielt sie davon ab. Bisher war ihm noch nie ein Kind gut genug für Meredith gewesen, und es würde vermutlich viel einfacher sein, ihn davon zu überzeugen, daß Lisa das Stipendium verdiene, als daß sie Merediths Freundschaft wert sei.
»Du erinnerst mich an deine Großmutter«, sagte er nach einer Weile. »Sie hat sich auch oft für andere eingesetzt, denen es weniger gut ging.«
Schuldgefühle nagten an ihr, denn der Wunsch, Lisa in Bensonhurst unterzubringen, war eher egoistisch als edelmütig, aber seine nächsten Worte ließen sie alles andere vergessen: »Ruf morgen meine Sekretärin an. Erzähle ihr alles, was du über dieses Mädchen weißt, und bitte sie, mich daran zu erinnern, daß ich mit Bensonhurst telephoniere.«
Die nächsten drei Wochen wartete Meredith gespannt auf Antwort. Sie hatte Lisa nichts von ihren Plänen erzählt, aus Angst davor, sie letztlich doch noch enttäuschen zu müssen. Andererseits konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß Bensonhurst der Bitte ihres Vaters nicht nachkommen würde. Reiche Amerikaner schickten ihre Töchter heutzutage in die Schweiz oder nach Frankreich ins Internat und nicht nach Vermont - und erst recht nicht nach Bensonhurst mit seinen kasernenartigen Studentenwohnheimen, den strikten Lehrplänen und Verhaltensregeln. Die Schule war bestimmt nicht mehr so gefragt wie früher einmal und würde es folglich kaum wagen, das Anliegen ihres Vaters abzulehnen.
In der folgenden Woche kam ein Brief von Bensonhurst, und Meredith wartete gespannt neben dem Stuhl ihres Vaters, während er ihn las. »Hier steht«, sagte er endlich, »daß sie Miss Pontini aufgrund ihrer herausragenden schulischen Leistungen und der Empfehlung der Bancroft-Familie ein Stipendium gewähren.« Meredith stieß einen äußerst undamenhaften Freudenschrei aus, der ihr einen eisigen Blick ihres Vaters einbrachte. Dann fuhr er fort: »Das Stipendium wird das Schulgeld sowie Unterkunft und Verpflegung abdecken. Für die An- und Abreise sowie für Taschengeld muß sie selbst aufkommen.«
Meredith biß sich auf die Lippen. Sie hatte nicht an das Taschengeld gedacht und auch nicht daran, wie teuer ein Flug nach Vermont war. Aber nachdem sie nun schon so weit gekommen war, fühlte sie sich in der Lage, auch dieses Problem in den Griff zu bekommen. Vielleicht würde sie ihren Vater dazu bringen, sie mit dem Wagen nach Vermont zu schicken. Dann könnte Lisa einfach mitfahren.
Am nächsten Tag nahm Meredith alle Prospekte über Bensonhurst und das Schreiben über das Stipendium mit in die Schule. Der Tag schien kein Ende zu nehmen, aber dann saß sie endlich bei den Pontinis am Küchentisch, und Lisas Mutter, die mit dem Backen hauchdünner italienischer Plätzchen beschäftigt war, bot ihr selbstgemachte Cannelloni an. »Du bist bald genauso mager wie Lisa«, sagte Mrs. Pontini, und Meredith knabberte gehorsam an einem Plätzchen, während sie ihre Schultasche aufmachte und die Bensonhurst-Prospekte herausholte.
Etwas unsicher in ihrer neuen Rolle als Wohltäterin, erzählte sie aufgeregt von Bensonhurst und Vermont und wie aufregend alles werden würde; dann verkündete sie, daß Lisa ein Stipendium für ebendiese Schule erhalten habe. Einen Augenblick herrschte Totenstille. Mrs. Pontini und Lisa mußten den letzten Teil erst einmal schlucken. Dann stand Lisa langsam auf. »Für was zum Teufel hältst du mich eigentlich?« schrie sie wütend. »Glaubst du vielleicht, ich nehme Almosen von dir an? Wer glaubst du eigentlich, daß du bist!«
Sie stürmte zur Hintertür hinaus, und Meredith rannte ihr nach. »Lisa, ich wollte dir doch bloß helfen!«
»Helfen?« Lisa holte Luft und fuhr sie an: »Wie zum Teufel kommst du auf die Idee, daß ich mit einem Haufen reicher Snobs wie dir auf eine Schule gehen will? Die mich wie einen Almosenempfänger behandeln würden! Ich sehe es direkt vor mir - eine Schule voller verwöhnter Gören, die nichts anderes zu tun haben, als darüber zu lamentieren, daß sie mit ihrem monatlichen Taschengeld von
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