Schatten der Vergangenheit (German Edition)
ihrer Schönheit so wenig bewusst war, wie Lily. Nicht, dass Lily dachte, sie sei hässlich, aber ihr fehlte die Arroganz mancher schöner Menschen und Esmeralda hatte in ihren vierzig Jahren einige von diesen kennengelernt.
Lily sah auf, weil sie merkte, dass Madame Dolce sie beobachte und lächelte.
„Das ist mein Lieblingsstück“, sagte sie und hob ein mitternachtsblaues Kleid aus grober Spitze hoch, das mit Seide unterfüttert war. Esmeralda hielt den Kopf schief und betrachtete das Kleid und das Mädchen.
„Es würde dir sicher besser passen wie mir“, sagte Dolce langsam. „Es wird Ihnen auch gut stehen.“
Manchmal war der Akzent der Kleinen genauso stark wie ihrer, dachte Esmeralda beruhigt. Sie hatte immer Komplexe wegen ihres schlechten Französisch. Nicht, dass Lilianes Französisch schlecht war, im Gegenteil. An manchen Tagen konnte man kaum erkennen, dass es nicht ihre Muttersprache war, jedoch nicht heute. Sie wirkte nervös. Irgendetwas ist heute geschehen, was das sonst so ruhige Mädchen durcheinander gebracht hatte.
„Wo hast du eigentlich Französisch gelernt?“ fragte Esmeralda, während sie sich in das Kleid zwängte. „Lycee“, antwortete Liliane ehrlich.
„In Wien?“ Lily schwieg, sie betrachtete die rundliche Frau vor ihr, die eben den Saum des Kleides gerade zog.
Wenige wussten, dass sie die Tochter des weltberühmten Künstlers August Neville war und so sollte es auch bleiben. Daher verschwieg sie diesen Teil ihrer Biographie – genauso wie ihre Ehe mit dem begehrtesten „Junggesellen“ Europas, der eben keiner war.
„Und?“ fragte Esmeralda. „Perfekt, fehlen nur noch die Schuhe... Der italienische Botschafter wird eine Dauererektion bekommen.“
Esmeralda kicherte laut. Sie hatte Lily von dem lüsternen Botschafter erzählt, der ihr immer viel zu lange in das Dekollete sah. Dolces Dekollete überlies auch kaum etwas der Phantasie und es war, neben dem ausdrucksstarken Gesicht, der prägnanteste Körperteil von Esmeralda Dolce.
Sie betrachtete sich im Wandspiegel des Ankleidezimmers.
Das Kleid passte. Es war elegant, ohne spießig zu sein, sexy statt ordinär und sie sah nicht fett darin aus. Vor allem, wenn sie sich vorher noch in eines dieser schlankmachenden Mieder zwängte.
„Lily, es ist perfekt, aber noch besser wäre es, wenn ich zehn Kilogramm weniger hätte.“
So wie das Mädchen, das ohne ihren Trenchcoat und Hut hinter ihr stand, in einem schmalen, schwarzen Kleid, so winzig, so dünn und mit langen Beinen, die in beigen Stiefeln steckten. Wo sie wohl einkaufen ging? Es schien immer so, als käme sie frisch von einer Modenschau. Immer perfekt frisiert, gekleidet, modisch elegant und sie sah aus, als würde sie nie ein Stück zu viel essen. Ach, manche waren einfach glücklich!
Sie hörte, versunken in ihren Gedanken, daher auch kaum die Bemerkung, die Lily machte.
„Ach was, dann hätten Sie Falten im Gesicht. Meine Mutter wiegt auch nicht weniger wie Sie“, beruhigte Lily Esmeralda. Das war glatt gelogen, denn auch wenn ihre Mutter nicht weniger wog, war sie mindestens fünfzehn Zentimeter größer als Dolce. Ihre Mutter wäre sicher schwer beleidigt gewesen, wenn man sie mit der kleinen Italienerin verglichen hätte, wo sie doch einmal ein begehrtes Fotomodell gewesen war.
„Was hast du noch Hübsches eingekauft?“ fragte Esmeralda. Lily Marlene griff in die Taschen, holte das passende Paar hochhackiger Schuhe heraus und hielt es Esmeralda hin. Es waren Dior Schuhe und kosteten soviel, wie ihre gesamten Ausgaben für Kleidung in einem Monat. Aber so war das nun mal, wenn man für andere, reiche Leute einkaufen ging, oder? Dabei könnte sie auch eine dieser Frauen sein...
Dank seiner Bestechung des Taxifahrers, wusste Philippe d’Arthois nun, wo diese junge Frau mit dem Faible für ausgefallene Hüte wohnte. Aber schlauer war er damit auch nicht.
Sie hieß Dolce? Er konnte es irgendwie nicht glauben, aber wenn der Taxifahrer es ihm sagte, musste es wohl stimmen. Sie hatte nicht wie eine Italienerin ausgesehen und doch passte ihr Kleidungsstil und ihre Vorliebe für teure Kleidung zu dieser vornehmen Adresse. Ihr Akzent war auch nicht der von Italienern gewesen, sondern eher deutsch…
Was, zum Teufel, machte er nun hier? Vielleicht war sie verheiratet und er stand hier, wie ein Idiot und wollte die Kleine sprechen. Er hatte nie Probleme mit Ehemännern.
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