Schatten Der Versuchung
Natalya trommelte mit den Fingern auf den Boden. »Ist das wahr?«
»Ich bin noch nicht so lange hier«, antwortete Gabrielle, »doch Gary hat mir erzählt, Prinz Mikhail sei eine Art Bindeglied zwischen allen Karpatianern.«
»Gary?«, wiederholte Natalya.
»Gary Jansen ist einer von diesen Spinnern, die alles können, alles wissen und so reden, dass kein Mensch sie verstehen kann«, sagte Jubal und grinste seine Schwester an.
»Ist er nicht.« Gabrielle warf ein Stück Stanniolpapier nach ihrem Bruder. »Er ist der netteste Mann, den es gibt. Und sogar Shea glaubt, dass Gary echte Chancen hat, herauszufinden, warum Karpatianerinnen so oft Fehlgeburten haben.« Sie lächelte Natalya an. »Er ist brillant.«
»Brillant, aber ein Spinner«, fügte Jubal hinzu.
Gabrielle schnitt eine Grimasse.
Auf einmal fühlte Natalya sich sehr allein. Wie oft hatte sie mit Razvan gescherzt und herumgealbert. Die Nähe zwischen den Sanders-Geschwistern machte ihr bewusst, wie viel sie verloren hatte. »Ich hatte früher einen Bruder.« Sie lehnte ihren Kopf an die Wand. »Wir waren Zwillinge. Er sah sehr gut aus, Gabrielle, genau wie Ihr Bruder. Und er war ein richtiger Herzensbrecher. Ständig waren Frauen hinter ihm her – und er genoss es.«
»Jubal mag Frauen auch, bloß seine Schwestern nicht«, meinte Gabrielle.
»Ich mag meine Schwestern, vor allem, wenn sie zur Abwechslung mal still sind. Und du musst zugeben, dass ihr alle beide verrückt seid.« Jubal grinste Natalya an. »Genau wie Sie. Haben Sie Ihren Bruder auch ständig auf die Palme gebracht?«
Natalya überlegte. »Wahrscheinlich. Ja. Ich kann mich nur an Teile meiner Kindheit erinnern, und wir mussten uns trennen, als wir älter waren. Danach trafen wir uns nachts in unseren Träumen und tauschten Informationen aus.«
Gabrielle runzelte die Stirn. »Warum konntet ihr nicht zusammenbleiben? Wir leben alle unser eigenes Leben, doch wir sehen einander sehr oft.«
Natalya bemühte sich, die verschütteten Erinnerungen zutage zu fördern. Immer häufiger sah sie ihre Vergangenheit in kurzen Rückblenden und versuchte, die Einzelteile zusammenzusetzen. »Es war für uns nicht sicher, zusammenzubleiben, deshalb gingen wir getrennte Wege. Er wusste nicht, dass wir im Traum miteinander kommunizieren konnten.«
»Ihr Bruder wusste es nicht? Ich kann nicht ganz folgen«, sagte Jubal.
Natalya schüttelte den Kopf. »Nein, nicht mein Bruder.« Sie runzelte die Stirn. »Ein Mann. Ich glaube, dass es vielleicht mein Großvater war. Wie auch immer, Razvan und ich mussten uns notgedrungen trennen. Er hatte sich verändert. Er wünschte sich Kinder. Das war ihm sehr wichtig, noch wichtiger, als eine Frau zu haben. Er war mit einer Frau in Kalifornien zusammen, und ich fand später heraus, dass sie ein Kind hatten, eine Tochter. Sie ist inzwischen natürlich erwachsen. Er hatte auch eine Frau in Texas und eine in Frankreich.« Bevor einer der beiden sich dazu äußern konnte, blickte sie auf. »Nicht gleichzeitig. Er war rastlos und hielt es nie für längere Zeit mit einer Person oder an einem Ort aus. Ich habe keine Ahnung, ob er noch mehr Kinder hatte. Er hat es mir nie erzählt, aber da er sich so sehr nach einem Kind sehnte, würde es mich nicht wundern. Er wurde getötet, bevor er seine Tochter in Kalifornien auch nur sehen konnte. Sie wusste nicht einmal, wer er war.«
»Das tut mir leid, Natalya. Es muss schrecklich für Sie gewesen sein, ihn zu verlieren. Ich frage mich, warum er Kinder wollte, wenn er nie an einem Ort bleiben konnte. Für Kinder wäre es sehr schwierig gewesen, einen Vater zu haben, der sie immer wieder verlässt«, wandte Gabrielle ein.
»Sind Ihre Eltern noch am Leben?«, fragte Natalya.
»O ja«, antwortete Jubal grinsend. »Sie sind sogar noch sehr lebendig. Ich wette, sie machen Joie und Traian im Moment ganz schön die Hölle heiß, weil sie mit ihrer Hochzeit nicht gewartet haben, bis auch unsere Eltern dabei sein konnten. Mom wird ganz schön sauer sein, was, Gabrielle?«
»Gelinde gesagt. Traian steht eine ganz nette Überraschung bevor, schätze ich. Ich wünschte, ich könnte zu Hause sein und Mäuschen spielen.«
Natalya gefiel der lockere Umgangston zwischen den Geschwistern. Es war nicht zu übersehen, wie sehr sie aneinander hingen, und das weckte in ihr erneut die Sehnsucht nach einer Familie. Obwohl sie sich Razvan sehr nahe fühlte, konnte sie nie richtig mit ihm zusammen sein. Ihre Umarmungen fanden nur im Traum statt,
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