Schatten Der Versuchung
deinen Händen auf meinen, sodass deine Finger das Messer zwar berühren, der körperliche Kontakt aber auf das Notwendigste beschränkt bleibt. Vielleicht wird dadurch das Risiko für dich minimiert.«
Wieder holte Natalya tief Luft und versuchte, den Aufruhr in ihrem Inneren zu beschwichtigen. Lieber würde sie gegen zehn Vampire antreten als lesen, was das Messer preisgab, doch alles Wünschen würde nichts daran ändern. Es musste getan werden. »Versuchen wir's, Vikirnoff, aber wenn du merkst, dass du uns da nicht rausholen kannst, lässt du das Messer los.«
»Das werde ich.«
Sein Atem streifte warm und tröstlich ihren Hinterkopf, als Natalya sich wieder vorbeugte. Sie gönnte sich dabei den Luxus, Vikirnoffs Gegenwart zu fühlen, ohne sich davon ablenken zu lassen. Sie legte ihre Hand auf seine und nickte ihm zu, um ihm zu zeigen, dass sie bereit war. Vikirnoff griff nach dem Messer. Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Ihre Muskeln spannten sich schmerzhaft an.
Ich bin bei dir.
Sie fühlte seine starke und unerschütterliche Nähe, seine Arme, die sie hielten. Er war bei ihr – und das bedeutete alles. Seine Gegenwart machte ihr Mut, und sie fuhr mit den Fingern über das Heft des Dolchs. Sofort spürte sie die Veränderung der Zeit, den starken Sog, der sie in die Vergangenheit und tiefer in die blutigen Erinnerungen des Messers zog.
Die konzentrierte Angst zahlloser Opfer stürmte auf sie ein, umschloss sie und drang in ihr Inneres ein. Sofort konzentrierte sie sich darauf, Vikirnoffs Hand zu fühlen, ihre Größe und Form, die Wärme seiner Haut. Das unendliche Grauen ließ ein wenig nach, und es gelang ihr, daran vorbeizugleiten und sich den Szenen zu nähern, die sie suchte. So viele Seelen schienen vor Kummer zu klagen und Gerechtigkeit zu fordern. Natalya wusste, dass das, was sie von dem Messer brauchte, noch vor dem Tod ihres Vaters passiert sein musste. Er musste das Buch versteckt und Blut auf dem Messer vergossen haben.
Mein Vater hätte niemanden geopfert, um diese Information zu hinterlassen. Die Wiedergabe der Szene, die wir suchen, muss viel schwächer als die der Bilder sein, in denen mehr Gewalt stattfindet. Das würde erklären, warum ich es beim ersten Mal verfehlt habe.
Langsamer, bitte. Du bewegst dich so schnell, dass ich nicht einmal einen kurzen Blick auf das, was geschehen ist, erhaschen kann.
Ich spüre den Grad an Gewalt und weiß, dass es nicht ist, was ich suche, und ich will nicht wissen, was Xavier noch alles verbrochen oder wen er getötet hat... Sie brach ab und hielt abrupt inne, als sie sich in der Kristallhöhle wiederfand. Vorsichtig schaute sie sich um.
Was ist los ?
Razvan. Ich fühle ihn. Seine Präsenz ist in diesem Zeitabschnitt sehr stark.
Vikirnoff zog scharf den Atem ein. Am liebsten hätte er beide Arme schützend um Natalya gelegt und ihr befohlen, sofort zurückzukommen. Wie lange ist das her?
Ich weiß es nicht. Noch nicht sehr lange, glaube ich. Ich habe die Gegenwart meines Vaters noch nicht gespürt.
Vikirnoffs Instinkte meldeten sich. Das ist unnötig. Du musst keine Gewalttaten erleben, die Razvan begeht. Geh weiter, Natalya.
Sie wollte ihren Bruder sehen. Sie wollte seinen Verrat mit eigenen Augen erleben. Es schien die einzige Möglichkeit zu sein, sich davon zu überzeugen, dass er tatsächlich auf die Seite der Vampire, auf Xaviers Seite, gewechselt hatte. Eigensinnig beobachtete sie, wie ihr Bruder in die Eishöhle schlenderte. Er hielt den Zeremoniendolch in seiner Hand, und in seinen Augen glitzerte ein seltsames Licht.
Das kannst du nicht machen. Vikirnoff unterlegte seine Worte mit sanftem Druck. Er wollte Natalya nicht bevormunden, doch er hatte einen bitteren Geschmack im Mund, der Warnung genug war. Razvan sah dem jungen Xavier viel zu ähnlich, ein Wahnsinniger, der nur daran interessiert war, möglichst viel Macht über andere zu bekommen. Xavier mit seinem angeborenen Talent hatte schnell an Macht und Format gewonnen und war zu der Überzeugung gelangt, dass es ihm bestimmt war, über die ganze Welt zu herrschen. Der Niedergang eines einstmals großen Magiers war vollständig, als er entdeckte, in welchen Machtrausch es ihn versetzte, Leben zu nehmen. Wütend darüber, dass Karpatianer im Gegensatz zu ihm unsterblich schienen, verfolgte er sie mit einem fanatischen Hass, der sein eigenes Ego ebenso wie seine Entschlossenheit nährte, diese Spezies auszuradieren, sobald er die Geheimnisse ihres Blutes kannte. Auf
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