Schatten Des Dschungels
genau an dieser Stelle mit dem Rad auf dem Weg zur Schule in den Perlacher Forst abgebogen. Ein paar Hundert Meter weiter steht das hellbraune Schulgebäude mit seinem schwarzen Dach auf einer Lichtung, als sei es dort aus dem Boden gewachsen wie ein Pilz. Die Buchen und Fichten um es herum scheinen es zu beschützen und vor Blicken zu verbergen.
Die Kinder, die jetzt hier lernen, sind längst daheim und es ist still. Ein paar Sonnenstrahlen malen helle Flecken auf den Boden. Der Wald riecht nach Herbstblättern und welkem Gras, nach Freiheit und Ruhe. Ich atme tief durch und schließe die Finger um den schwarzen Stein, den mir Falk geschenkt hat. Ruhig, ganz ruhig .
Meine Schuhe machen kein Geräusch auf dem feuchten, gelblichen Laub, als ich um das Gebäude herumgehe und Ausschau nach Falk halte. Gleich werde ich ihn wiedersehen, gleich, gleich, gleich. Schon beim Gedanken daran durchströmt mich Wärme, fühle ich mich lebendiger. Trotz allem. Die Sehnsucht in mir ist hundertmal stärker als Hunger oder Durst. Schon früher war ich ein paarmal verliebt, aber so wie diesmal war es nie.
Unwillkürlich gehe ich schneller. Ich bin zu früh dran, und trotzdem halte ich schon Ausschau, lasse den Blick schweifen. Wie vertraut mir hier alles ist, aber ein paar Dinge haben sich auch verändert. An der Westwand ist eine neue Regentonne installiert worden und sie haben endlich das Dach der Töpferwerkstatt fertigbekommen. Da drinnen habe ich früher albtraumhafte Skulpturen und klumpige Schalen hergestellt, einmal habe ich eine davon frustriert auf den Boden geklatscht – das Ergebnis gefiel mir viel besser, weil es wie eine Landschaft aus Hügeln und Tälern aussah. Danach modellierte ich öfter mal Gebirge, die es nicht gibt, Höhlen, in denen sich Neandertaler wohlgefühlt hätten, Flusstäler, durch die echtes Wasser fließen konnte. Heute mache ich so etwas immer noch ab und zu, für Online-Rollenspieler, die eine Welt zum Austoben brauchen – aber inzwischen bestehen meine Landschaften aus Pixeln.
Durch das große Fenster des Bibliotheksraumes sehe ich, dass da drinnen noch jemand hockt und arbeitet. Vielleicht ein Schülerteam, das an einem Projekt feilt und noch nicht gehen mag … kenn ich, so ging es mir auch oft. Und die Lehrer lächelten nur und erinnerten uns nie daran, wie spät es schon war.
Wieder einmal schaue ich auf die Uhr. Jetzt ist es fünf und noch sehe ich Falk nicht, hat er überhaupt hergefunden, habe ich mir die Uhrzeit womöglich falsch gemerkt? Oder meinte er fünf Uhr morgens? Tausend kleine Sorgen kriechen in mir hoch, aber ich streife sie energisch ab: Schluss jetzt! Ich habe mir die verdammte Uhrzeit nicht falsch gemerkt und Falk wird gleich hinter irgendeiner Ecke, hinter irgendeinem Baumstamm auftauchen.
Als ich ihn dann tatsächlich sehe, durchfährt es mich wie ein elektrischer Schlag. Beinahe hätte ich ihn übersehen, weil er sich hingehockt hat, ein Knie auf den Boden gestützt. Hat er etwa irgendein Kunstwerk angefangen, ohne mich? Nein, zum Glück nicht, er beobachtet irgendetwas auf dem Boden; beim Näherkommen sehe ich, dass es ein Hügelnest von Roten Waldameisen ist.
Er schaut sich nicht um, als ich näher komme, aber als ich nur noch ein paar Schritte entfernt bin, sagt er: »Weißt du eigentlich, wie ähnlich sich Menschen und Ameisen sind, Cat?«
»Sie halten Nutztiere, so wie wir – Blattläuse, die sie melken«, sage ich, lasse mich hineinziehen in seine Welt, weil ich weiß, dass dort Platz ist für uns beide. »Arbeitsteilung kennen sie auch, es gibt bei ihnen Arbeiter und Soldaten.«
Er nickt und lässt den Blick nicht von den winzigen Tieren, die dort ihre Stadt gebaut haben. »Ja. Aber hast du auch gewusst, dass sie sogar Kriege gegeneinander führen? Und es gibt viele Arten, die gezielt andere Ameisenvölker versklaven. Entweder sie überfallen deren Nester oder sie stehlen die Brut anderer und lassen die Tiere für sich arbeiten.«
»Wir Menschen haben also gar nicht so viel erfunden, wie wir dachten«, sage ich, halb fasziniert, halb abgestoßen.
»Der größte Unterschied zwischen ihnen und uns ist eigentlich, dass sie keinerlei Abfall hinterlassen. Was sie nehmen, geben sie in anderer Form wieder zurück. Sie schaden ihrer Umgebung nicht. Wir schon.«
Falk fährt sich mit der Hand durch die blonden, fast messingfarbenen Haare, steht auf und wendet sich mir zu. Von einem Moment auf den anderen gehört er wieder ganz und gar mir. Sein Blick sondiert
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