Schatten Des Dschungels
verständnislos den Kopf. »Wieso fahren die nicht in den Sommerferien?«
»Geht nicht. Dann ist in Guyana Regenzeit.«
Ich weiß, dass es jetzt jeden Moment aus sein kann, denn mein Vater macht gerade sein Gewittergesicht – früher ist Juliet bei diesem Anblick unter den Tisch gekrochen. Doch bevor mein Vater etwas sagen kann, erkundigt sich meine Mutter: »Und was würde das Ganze kosten?«
Wegen der Spritpreise sind auch Flugtickets heftig teuer geworden. Doch das ist nicht der Grund, warum meine Eltern bisher fast nie in den Urlaub geflogen sind – für sie ist Fliegen wegen der vielen Schadstoffe, die dabei in die Luft gepustet werden, eine Umweltsauerei. Aber wie soll ich sonst nach Südamerika und zurück kommen, mit dem Schiff vielleicht? Dann kann ich noch vier Wochen Schulbefreiung extra beantragen.
»Nichts würde es mich kosten«, antworte ich, das ist einer meiner wenigen Trümpfe. »Alle Kosten werden von Living Earth übernommen. Und als Ausgleich für die Flüge werden so viele Bäume gepflanzt, dass die Ökobilanz okay ist.«
»Na, wenigstens das«, brummt mein Vater. »Wie viele Leute werden denn bei dieser Expedition mitmachen? Es sind aber nicht nur Jugendliche dabei, oder?«
»Nein, nein, die meisten Teilnehmer sind Forscher«, versichere ich schnell, obwohl ich keine Ahnung habe, ob das stimmt. Immerhin, ein paar Dinge hat mir Falk noch verraten: »Sie kommen aus verschiedenen Ländern, es wird ein internationales Team, das wäre eine ganz tolle Chance für mich.«
Doch ich merke, dass mein Vater schon nicht mehr zuhört. »Vergiss es – du würdest in der Schule viel zu viel Stoff verpassen«, knurrt er und beißt krachend in sein Sojabrötchen. »Eine Woche, das genehmigt die Academy sowieso nicht, wir brauchen gar nicht mehr darüber zu reden.«
Mein Mund ist so trocken, dass ich es nicht mehr schaffe, den Bissen Vollkornbrot in meinem Mund hinunterzuschlucken. Fahr doch zur Hölle! , schießt es mir durch den Kopf, und ich bin selbst erschrocken darüber, wie stark der Hass ist, den ich auf diesen kräftig gebauten, inzwischen grauhaarigen Mann auf der anderen Seite des Tisches fühle. Was ist passiert in den letzten Jahren, wieso hat sich mein lustiger, lockerer Papa in diesen anderen Menschen verwandelt, der mir so fremd ist? Als ich klein war, arbeitete er noch als einfacher Verkäufer bei Barkley Beaver , einem Hersteller von Outdoor-Klamotten, und ich musste im Waldkindergarten ständig deren neuste Produkte testen. Ein paar Jahre später wurde er bei der Firma Sales Manager und inzwischen ist er für den ganzen europäischen Markt zuständig. Wir haben zwar deutlich mehr Geld als früher, aber mein Vater ist selten daheim. Und das Schlimmste ist – allen ist es lieber so.
Zu meiner Überraschung mischt sich jetzt meine Mutter noch einmal ein, obwohl sie gerade mehr oder weniger gleichzeitig den Tisch abräumt, Jus verschwundenes Handy suchen hilft und einen Himbeerfleck aus ihrem Rock reibt. »Na, jetzt unterschätzt du die Academy aber, Severin. Das eine Mädchen in Cats Klasse arbeitet schon als Schauspielerin, das gab noch nie Probleme, oder, Cat? Und diese Zwillinge – du weißt doch, diese Jungs, wie heißen sie noch mal …?«
»Miro und Alex«, souffliere ich.
»… haben sich sogar drei Monate befreien lassen, um mit ihren Eltern auf Weltreise mit dem Segelboot zu gehen. Ich wette, so ein internationales Naturschutzprojekt würde Cat bei den Lehrern sogar Pluspunkte einbringen.«
»Ja, genau!«, sage ich, und zum ersten Mal bin ich dankbar dafür, dass meine Eltern aus der Fülle der Privatschulen, die in den letzten zehn Jahren entstanden sind, ausgerechnet die International Academy ausgesucht haben, die großen Wert auf vielfältige Aktivitäten ihrer Schüler legt. »Außerdem passiert in der Woche vor den Ferien doch sowieso nicht mehr viel, da werden vor allem Exkursionen gemacht.«
Mein Vater geht nicht darauf ein. Er schaut nur kurz auf die Uhr, stellt fest: »Wir müssen alle los«, und steht auf. Ich sehe, dass er in Gedanken bereits halb im Büro ist, sein Blick ist schon in weite Ferne gerichtet.
»Denkst du wenigstens darüber nach? Ob ich mitfahren darf?«, frage ich so ruhig, wie das geht, wenn einem gerade sämtliche Träume in kleinen Fetzen um die Ohren fliegen. Er wendet sich zu mir um, während er sich die Jacke anzieht, und vielleicht erkennt er in meinem Blick etwas davon, wie ich mich fühle. Jedenfalls sagt er: »Na gut. Ich denke
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