Schatten Des Dschungels
auf und gehe zu Lindys Hängematte. Ich schaue auf ihr Gesicht herab, das in so kurzer Zeit schon hager geworden ist, und bin einfach nur traurig. Was ist, wenn sie es nicht überlebt? Wenn sie als Letzte ihrer Familie auch noch stirbt? Wenn ich sie jetzt zum letzten Mal sehe? Lautlos spreche ich ein Gebet für sie, das ich noch aus meiner Kindheit kenne.
Dann setze ich mir das Nachtsichtgerät auf. Eben war es fast dunkel um mich herum, und jetzt kann ich im grünen Display des Geräts jedes Detail des Lagers erkennen, die Zelte, Hängematten, die erloschene Feuerstelle, den gewaltigen umgestürzten Baum. Innerlich verabschiede ich mich von allem, von meiner Zeit bei der Expedition. Mein Blick fällt auf Falks Hängematte, aus der sein blonder Haarschopf ragt, und ich weiß, dass ich nicht zu ihm gehen, keinen letzten Blick riskieren darf. Sonst werfe ich womöglich meinen Rucksack ins Gebüsch und bleibe.
»Mach’s gut, Falk«, sage ich, meine Lippen bewegen sich lautlos. Doch das war schon zu viel, Tränen stürzen aus meinen Augen. Blindlings versuche ich loszugehen, stolpere beinahe über einen Ast, reiße mich zusammen, finde endlich den Pfad zur colpa , der sich schwach in der grün leuchtenden Dunkelheit abzeichnet. In meiner Jackentasche ist der schwarze Stein, noch immer begleitet er mich, auch jetzt schließen sich meine Finger darum wie schon so oft. Was wird Falk denken, wenn er aufwacht und mich nicht mehr findet? Wird er vermuten, dass ich aus Angst vor der Krankheit geflohen bin? Oder wird er den wahren Grund ahnen? Wird er sich an die Versprechen erinnern, die ich ihm gegeben habe? Als ich daran denke, dass er vor den anderen für mich gebürgt hat, wird mir fast schlecht. Wahrscheinlich bekommt er jetzt ziemlichen Ärger wegen mir.
Vielleicht sollte ich ihm einen Abschiedsbrief schreiben. Aber dafür ist es jetzt eigentlich zu spät, ich bin schon seit einer Viertelstunde unterwegs – wenn ich umkehre, dann werde ich womöglich entdeckt. Falk hat keinen sehr festen Schlaf, in München ist er manchmal aufgewacht, nur weil ich neben ihm im Bett oder im Schlafsack wach lag und dadurch anders geatmet habe. Außerdem: Je länger er und die anderen rätseln, warum ich weg bin, desto weiter komme ich, bevor sie versuchen werden, mir zu folgen. Mich wieder einzufangen.
Also beiße ich die Zähne zusammen und laufe weiter, obwohl es sich anfühlt, als lasse ich alles, was schön und wichtig war in meinem Leben, in diesem Lager zurück. Und ich bin mir auch längst nicht sicher, ob ich wirklich das Richtige tue. Wenn ich vor Last Hope warne, Falks Pläne verhindere, dann muss die Menschheit einen anderen Weg finden, die letzten Regenwälder zu schützen. Aber geht das überhaupt, haben wir nicht schon alles versucht? Was ist, wenn Falk doch recht hat mit dem, was er sagt? Dann bin ich jetzt dabei, alles kaputt zu machen.
Nein. Ich kann jetzt nicht daran denken. Es ist alles zuviel. Ich fange an zu rennen, meine Gedanken peitschen mich vorwärts. Mein Gesicht ist nass vor Tränen, blindlings stolpere ich durch den Dschungel. Weg, nur weg! Dornen zerren an mir und Blätter klatschen in mein Gesicht, aber ich spüre den Schmerz kaum, denn an Falk zu denken fühlt sich sowieso schon an wie in ein offenes Messer zu greifen.
Es dauert eine Ewigkeit, bis ich mich wieder beruhigt habe und überhaupt einen klaren Gedanken fassen kann. Es ist längst Zeit, vom Pfad abzuweichen. Ich habe geplant, mich in Richtung Norden zum Cuyuni River durchzuschlagen. Entweder finde ich schon dort bei der Siedlung Maipuru Hilfe, oder flussaufwärts in La Reforma, wo ein größerer Grenzübergang ist, inklusive Fähre und Flugplatz.
Mit zitternden Händen hole ich den SAM hervor, gebe meinen Ausgangspunkt ein und lasse ihn die geplante Route berechnen. Jetzt genügt der virtuelle Kompass, um diesem Weg zu folgen. Ich brauche nicht mal Kontakt zu einem Satelliten, und das ist auch besser so, denn der Empfang ist hier unter dem dichten Kronendach nicht toll, und außerdem bin ich nicht sicher, ob man ein GPS-Gerät orten kann.
Shit . Beinahe hätte ich den Tracker-Chip in meiner Jacke vergessen und Michelle hat seine Frequenz! Hastig setze ich meinen Rucksack ab, krame das Taschenmesser hervor und schneide den Chip aus der Jacke heraus. Besser, ich pfeffere ihn nicht ins Gebüsch, sondern vergrabe ihn und bedecke ihn mit Steinen – muss ja nicht sein, dass sie ihn hier orten, das gäbe Falk, Michelle und Pancake einen Hinweis,
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