Schatten Des Dschungels
du etwa jemanden geküsst?«, fragt meine Mutter streng und Ju schüttelt beleidigt den Kopf. Schon ist Juliets Mund komplett schwarz, und dann fängt ihre Zunge an, sich aufzulösen wie ein Herbstblatt, das sich im Boden zersetzt …
Mit hämmerndem Herzen wache ich auf. Das Grauen sitzt tief in mir fest und schnürt mir die Kehle zu. Es war nur ein Traum, Juliet wird nichts passieren, sage ich mir immer wieder, aber es dauert lange, bis ich endlich ruhiger werde und wieder einschlafe. Als es hell wird und ich schließlich aus der Höhle krieche, fühlt sich mein Körper steif an, meine Muskeln schmerzen wie nach einem Marathonlauf, für den ich mich nicht richtig vorbereitet habe. Aber nachdem ich mich gereckt und gedehnt habe, geht es wieder. Mein linkes Schienbein juckt schrecklich, und panisch taste ich mich ab, aber ich finde nur ein paar kleine rote Punkte. In einer Pfütze versuche ich zu erkennen, ob das Innere meines Mundes anders aussieht als sonst, aber das Licht ist einfach zu schlecht, ich sehe nur eine dunkle Öffnung in meinem Gesicht und sonst nichts. Stattdessen versuche ich es damit, meinen Mund und die Zunge abzutasten. Kein Schmerz. Ganz langsam entspanne ich mich wieder etwas.
Meine Gedanken wandern zurück zu diesem scheußlichen Traum, ich kann mich noch an jedes Detail erinnern. Auf meinen Armen bildet sich eine Gänsehaut. Vielleicht war dieser Traum ein Segen, denn jetzt ist mir klar, dass ich mich Falk und den anderen nicht stellen kann, ich muss um jeden Preis versuchen, weiterzufliehen und das Projekt Last Hope aufzuhalten.
Die Luft riecht wunderbar an diesem Morgen, blattfrisch und angenehm kühl. Umgeben von den gewaltigen Stämmen fühle ich mich winzig, zu Gast in einer Welt der Riesen. Überall ist Leben: Im Geäst der Kronen höre ich es rascheln, die Rufe von Vögeln klingen zu mir hinunter. Durch das grüne Licht des Waldes bohren sich einzelne strahlend helle Speere von Sonnenlicht. In den Lichtflecken, die sie auf den Boden malen, tanzen Wolken von Schmetterlingen. Und ich bin der einzige Mensch weit und breit. All das gehört nur mir.
Ganz ruhig sitze ich da und staune zum ersten Mal seit Tagen wieder über das, was ich hier erlebe. Ich fühle mich beschenkt. In meiner Hosentasche finde ich die gelbe Blüte, die ich aus dem Kronendach mitgenommen habe, sie duftet noch. Ich halte sie ganz vorsichtig in der Hand, und auf einmal habe ich keine Angst mehr vor dem, was mich erwartet. Ich werde weitergehen und versuchen, eine Zeit lang Teil dieses Waldes zu werden. Und die geheimen Daten auf meinem Pad dorthin zu bringen, wo jemand etwas mit ihnen anfangen kann. Ich werde es schaffen, ganz bestimmt. Für mich ist dies hier keine grüne Hölle, und es wird auch nie eine sein. Wir werden andere Wege finden, den Dschungel zu bewahren, eine Krankheit ist nicht die einzige Möglichkeit, nein, ganz sicher nicht!
Ich muss lächeln, als mir auffällt, wo genau all diese hübschen Schmetterlinge sich sammeln – dort, wo ich bei Sonnenaufgang meine Blase geleert habe. Wahrscheinlich haben sie es auf die Mineralsalze in meinem Urin abgesehen, die im Regenwald so knapp sind. Schön, dass Menschen hier nicht nur schädlich, sondern auch nützlich sein können.
Frühstück gibt es für mich keins, aber das ist nicht weiter schlimm; gerade dadurch, dass mein Magen leer ist, fühle ich mich leicht, schnell und klar im Kopf. Aber ich weiß, dass mich der Hunger schneller quälen wird, als mir lieb ist, und deshalb trödele ich nicht herum. Nachdem ich meine Zahnbürste sorgfältig gereinigt habe, putze ich mir die Zähne; nur mit Wasser zwar, aber das vertraute Ritual tut mir irgendwie gut. Anschließend sammele ich Tau und Regenwasser von Blättern in mein Marmeladenglas, Trinkwasser für die Reise, und schneide dünne, noch nicht verholzte Lianen ab. Aus ihnen flechte ich eine Art Tasche, in der ich mein Pad und anderen Kram transportieren kann, einen Ersatz für meinen Rucksack. Das Flechten macht mir keine Mühe, wir hatten mal ein Projekt dazu in der Waldschule.
Jetzt bin ich wieder unterwegs, immer nach Norden. Ich arbeite mich im gleichmäßigen Tempo durch den Wald, klettere über abgefallene Äste und über Steine, wate durch zwei kleine Flüsse und ein paar Rinnsale, dränge mich dort durchs Gebüsch, wo es keinen Pfad gibt und nie einen gegeben hat. Doch der Gedanke an Verfolger lässt mir keine Ruhe. Immer wieder bleibe ich kurz stehen, um zu lauschen, lege an einer schlammigen
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