Schatten eines Gottes (German Edition)
Wappen des Stifts. In der Kutsche saß ein beleibter Mann in einer Ordenstracht und auf dem Bock ein halbwüchsiger Knabe, der das Gespann lenkte. Der Knabe grüßte freundlich.
»He Junge, achte auf den Weg!«, blaffte der Mann in der Kutsche.
Sinan zog seine rote Kappe vor dem Geistlichen. »Ich wünsche einen schönen Tag.«
»Herumwanderndes Lumpengesindel! Spielleute, die dem lieben Gott die Zeit stehlen«, brummte der Mann, »geh zum Teufel!«
»Aber gerade der schickt mich doch«, erwiderte Sinan liebenswürdig.
»Auch noch ein freches Mundwerk, das kann man sich ja denken!«, schimpfte der Mann und befahl dem Jungen, die Pferde anzutreiben und schneller zu fahren. Wäre Sinan nicht rechtzeitig beiseite gesprungen, wäre ihm ein Rad über die Füße gerollt. Dabei riss ihm ein Dornenzweig ein kleines Loch in sein Wams.
»Dafür wirst du leiden!«, murmelte Sinan. Leichtfüßig und unbemerkt schwang er sich hinten auf. Mit heftigen Bewegungen brachte er den Wagen zum Schaukeln, bis der Junge auf dem schmalen Weg die Kontrolle über die Pferde verlor. Der Mann in der Kutsche fluchte über den blöden Bengel, dann stieß der Wagen unsanft gegen einen im Weg liegenden Feldstein, das Rad brach, und der Wagen stürzte um. Der beleibte Ordensbruder kippte schreiend aus dem Wagen. Der Junge hatte sich mit einem kühnen Sprung in Sicherheit gebracht. Die Pferde schleiften den umgestürzten Wagen noch eine Weile mit, bis sie mit zitternden Flanken stehen blieben.
Am Feldrain zappelte der Ordensbruder wie ein auf den Rücken gefallener Käfer. Er brüllte nach dem Jungen. »Elender Taugenichts! Lauf und hole Hilfe. Mach schon! Verfluchter Esel! Oh, ich glaube, mein Bein ist gebrochen.«
Sinan wartete, bis der Junge verschwunden war. Er warf einen Blick auf den Mann im geistlichen Gewand, der stöhnend sein Knie hielt. Er hörte den dicken Mann jammern, und es erquickte ihn.
»Ich helfe dir«, sagte Sinan und holte aus seiner Umhängetasche ein Kreuz. Als der Mann es sah, fluchte er wie ein Heide. »Was soll ich damit anfangen, du Dummbartel? Ich habe Schmerzen, willst du die etwa wegbeten?«
»Ganz ruhig, dir soll Gerechtigkeit werden. Gerechtigkeit im Namen Asakkus.«
»Wer zum Teufel ist Asakku?«, stöhnte der Mann.
Sinan zog einen langen schmalen Dolch aus seinem Gürtel. »Asakku ist der große Peiniger, er ist es, der die Menschen am Kopf befällt.«
Er setzte die Dolchspitze am linken Auge des Mannes an und lächelte. »Irgendwo am Kopf, dort, wo es am meisten wehtut.«
Der Mann gurgelte entsetzt. »Wie? Was? Du wagst es? Ich bin der Dompropst von …«
Seine Worte gingen unter in einem Geschrei und Gewinsel, als ihm der Dolch in das Auge fuhr. Als ihm auch das andere Auge genommen wurde, kippten seine Schmerzensschreie um in ein schauriges Quieken.
So müssen die armen Seelen in der Hölle winseln, die sich die Kirche für ihre Schäfchen ausgedacht hat,
dachte Sinan grimmig. Er trat einen Schritt zurück und weidete sich an dem Anblick des sich windenden Mannes, dem das fette Fleisch am Hals zitterte, das Fleisch, das er sich angemästet hatte, während seine Bauern hungerten. Sinan ließ sich Zeit, bevor er das angespitzte Kreuz hob, das Kreuz mit dem Namen Asakkus, und es ihm so heftig in die Kehle stieß, dass es im Nacken wieder herauskam und den Dompropst auf den Boden nagelte.
Sinan eilte der Kutsche nach und schirrte die Pferde ab. Sie würden ihren Stall allein finden. Dann kehrte er zu dem Baumstamm zurück, wo er seine Laute gelassen hatte. Unterwegs fischte er seine rote Kappe aus dem Sand und setzte sie auf. Er zupfte die Saiten der Laute. Sie gab einen hellen Klang. Er horchte in sich hinein. Was verspürte er? Was hatte die Tat aus ihm gemacht? Hatte sie ihm eine neue Einsicht geschenkt? Fühlte er sich reiner als zuvor? Nein, er war immer noch Ranush, der Löwe, den es nach Blut verlangte. Es war wie ein Hunger nach Brot, wie das Dürsten nach einem Schluck Wasser. Je stärker er sich bemühte, das Verlangen zu bezwingen, desto größer wurde es. Noch diente es ihm. Er hatte keine Ahnung, auf welche Weise er es zügeln und bändigen sollte, wenn einst aus Ranush dem Löwen Ranush der Parse werden sollte.
Sinan verschwand im Wald. Nach so einem Erlebnis wollte er die Nacht unter freiem Himmel verbringen. Das hatte er schon oft getan und war jedes Mal erfrischt erwacht. An einem Bach wusch er sich das Blut ab, dann legte er sich ins Gras, verzehrte ein paar Nüsse und starrte
Weitere Kostenlose Bücher