Schatten eines Gottes (German Edition)
hinauf in die Baumwipfel und in den blauen Himmel.
Sieben versiegelte Briefe hatte der Meister ihm mitgegeben. Vorgestern hatte Sinan den Vierten geöffnet. ›Töte den Dompropst von St. Flonheim‹, hieß die Anweisung. Keine Begründung. Sinan brauchte keine. Er gehorchte dem Meister, und er wusste, jedes seiner Opfer war sorgfältig ausgesucht, war ein Hindernis auf dem Weg zur Erneuerung der Welt, das beseitigt werden musste.
Sein drittes Opfer war der Abt des Jakobsklosters gewesen. Ein zorniger alter Mann, dem er das keifende Maul mit einem Knebel hatte schließen müssen, bevor er ihm zu Ehren des alten Dämons Alu den Fuß abhackte. Er hatte ihn nicht als Trophäe mitgenommen, sondern auf den Abfallhaufen des Klosters geworfen.
Nun durfte er den fünften Umschlag öffnen.
***
Ein gutes Jahr war es nun schon her, dass Sinan St. Marien verlassen hatte. Sein erster Eindruck war eine paradiesisch erschaffene Welt gewesen. Oft hatte er einen bewaldeten Hügel erklommen und die Aussicht ins Tal genossen, welches vom schimmernden Band eines Flusses durchzogen wurde, hatte den Flug der Vögel beobachtet, das Spiel der Insekten im Gras und den Wechsel von Sonne und Wolken.
Zuerst hatte er die wilde Landschaft der Eifel durchstreift, war dann an den Rhein gekommen, wo er auf dem Weg zwischen Köln und Mainz sein erstes Opfer gesucht und getroffen hatte. Er war ausgezogen, um den Meister der Dunkelheit zu töten. An seine Stelle sollte der Meister des Lichtes treten. Aber es reichte nicht, einen Mann zu beseitigen, wenngleich dieser Mann der große Innozenz war. Andere würden an seine Stelle treten, wenn man das nicht verhinderte. Sinan wollte einen Teil dazu beitragen.
Die Bruderschaft verfügte über ein hervorragendes Nachrichtennetz. Ihre Leute befanden sich in der Nähe des Königs genauso wie in Klöstern oder in schmutzigen Gassen bei den verkrüppelten Bettlern. Sinan war in der Verkleidung eines Spielmanns und Sängers unterwegs, das fiel ihm leicht, denn in St. Marien hatte er einen guten Lehrmeister gehabt. Ein Sänger reiste von Ort zu Ort und war bei den meisten wohlgelitten. Der König und der Papst waren oftmals auf Leute angewiesen, die aus Furcht nur die halbe Wahrheit sagten. Sinan jedoch hatte sein Ohr direkt am Munde des Volkes. Er erfuhr Dinge, die Königen und Päpsten vorenthalten blieben. Niemand schöpfte Verdacht, wenn er überall auftauchte und neugierige Fragen stellte, denn es war sein Gewerbe, Geschichten zu sammeln, um sie in Lieder umzusetzen.
Doch die Rolle als Spielmann hatte ihre Tücken. In Neubabylon, dem Ort, in dem er aufgewachsen war, wurden Lautenspiel und Gesang gepflegt und gern gehört. Jedoch in dieser Welt galt er als Landstreicher, den die Hunde anpinkeln durften. Er hatte das Waffenhandwerk erlernt, auch mit dem lautlosen Messer war er ein Meister. Doch als Spielmann musste er sich ducken, durfte nicht einmal seinem Zorn mit Worten Luft machen, denn für Widerspenstige gab es den Pranger und für Aufrührer den Galgen.
›Es ist eine gefallene Welt‹, hatte ihn der Meister gewarnt. ›Du wirst vielen Anfechtungen begegnen und musst trotzdem die richtigen Entscheidungen treffen.‹ Auf Härten war Sinan vorbereitet worden. Jedoch die Welt außerhalb St. Mariens schien ihm von einer Seuche befallen, schlimmer als er geglaubt hatte. Auf den ersten Blick war sie nicht als solche zu erkennen. Der allerbarmherzigste Christus starrte von den Kreuzen, und die mildeste Mutter Maria lächelte wie der Sonnenschein, doch vor den Kirchentüren schlugen sich die Krüppel wegen eines Brotes gegenseitig tot.
Es gab prächtige Kirchen, Klöster und Dome, auch Adelspaläste und schmucke Handelshäuser. Doch in unmittelbarer Nachbarschaft versanken die ungepflasterten Straßen im Morast, die Abfälle faulten vor sich hin und zogen Ratten an. An den Sonn- und Feiertagen waren die Kirchen stets gerammelt voll. Vorn auf den guten Plätzen saßen die Prälaten in ihren prunkenden Gewändern, während das Volk hinten halleluja rief und vor dem Fegefeuer zitterte.
Von welchen Gräueln hatte er nicht erfahren? In Frankreich hatte ein Zisterziensermönch mit seinen hasserfüllten Predigten gegen die Katharer den Abschaum Europas versammelt. Im Namen des Heilands kämpften dort Christen gegen Christen. Töten, schänden, Leichen fleddern, das hatten sich die Horden auf ihre christlichen Fahnen geschrieben.
Verblendung und Fanatismus, Neid und Gier hatten zu blutigen Kreuzzügen
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