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Schatten Gottes auf Erden (German Edition)

Schatten Gottes auf Erden (German Edition)

Titel: Schatten Gottes auf Erden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Hering
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schmächtigen Mann vor mir, mit schütterem Bart, dessen Hände, feingliedrig wie die einer Frau, aus den weiten Ärmeln seines Gewandes kaum hervorsahen und in dessen Stimme ein leichtes Singen mitschwang, doch nicht der leiseste Befehlston.
    »Ich höre, mein Sohn«, sagte er, »du stehst hier, um Zeugnis davon abzulegen, dass dein Bemühen nicht umsonst gewesen ist, als du das heiligste aller Bücher abschriebst. Dass sich nicht nur deine Finger geregt haben, sondern auch dein Geist. Dass nicht nur das tote Papier die teuren Worte aufgenommen hat, die unserm Propheten (Allah schenke ihm Gnade über Gnade!) offenbart worden sind, sondern auch dein lebendiges Gedächtnis. Darum, wenn du nun den Koran vorträgst, nimm deine Zuflucht zu Allah vor dem gesteinigten Schaitan, und bewege deine Zunge nicht zu schleunig, sondern mit Bedacht.«
    Er hielt inne und sah mich an, sein Blick war eher ermunternd als scharf, als er fortfuhr: »An welcher Stelle der Schrift stehen diese Worte?«
    Einen Augenblick musste ich mich besinnen, und es erhob sich ein leises Gemurmel im Saal – wahrscheinlich derer, die sich selbst unsicher waren, was sie antworten würden. Da sprach statt meiner Ulug Beg, und es lag Tadel in seiner Stimme, der aber nicht mir galt, sondern dem Prüfenden: »Bedenke, o Scheich, du hast keinen Fakih vor dir, dem ein Gutachten abverlangt wird, sondern einen Knaben, der beweisen soll, dass er den Koran auswendig kann. Darum lasse ihn rezitieren, aber stelle keine so kniffligen Fragen.«
    Doch ehe Ibrahim al Nischapuri, den diese Zurechtweisung wohl etwas verwirrte, den Mund wieder öffnen konnte, fiel mir die Antwort ein.
    »Zwei Stellen hat der verehrungswürdige Scheich miteinander verknüpft«, sagte ich. »Die erste, ›nimm deine Zuflucht zu Allah vor dem gesteinigten Schaitan‹, stammt aus der Sure ›Die Bienen‹, aus deren hundertstem Vers, und der der nächstfolgende lautet: ›Siehe, keine Macht hat er über diejenigen, die gläubig sind und auf ihren Herrn vertrauen.‹ Die Zweite aber, ›bewege deine Zunge nicht zu schleunig‹, steht in der Sure ›Die Auferstehung‹ im 16. Vers und geht weiter: ›Siehe, uns steht es zu, ihn zu sammeln und vorzutragen. »
    Als ich das, erst vor Erregung ein wenig heiser, aber dann mit immer freierer und festerer Stimme, vorgetragen hatte, wurden Zurufe im Saal laut, die Erstaunen und Freude über meine gelungene Antwort ausdrückten, und auch Ulug Beg nickte mir zu. Al Nischapuri aber hatte sich gefasst und sagte: »Zum Lohn für diese Antwort, die uns allen zeigte, was in dir steckt, darfst du nun die Stellen rezitieren, die dir am besten gefallen haben.«
    Das war eine Aufforderung, die jedem Prüfling das Herz im Leibe hätte lachen machen. Denn was war leichter, als dieser Aufforderung nachzukommen? Gab es nicht Stellen, die sich einem besser eingeprägt hatten als alle anderen, sodass die Worte wie Honig über die Lippen fließen könnten und ein Steckenbleiben nicht zu befürchten wäre? O gewiss, auch ich kannte solcher Abschnitte die Menge! Aber verwirrt, ja geradezu verstört hatten mich die Worte des Scheichs: »die dir am besten gefallen«. Warf er damit ein Netz über mich, in dem er mich fangen wollte? Denn was überhaupt gab es in diesem seltsamen Buch, das mir wirklich gefiel?
    Die Schilderungen des Paradieses? »Bäche von Wasser, welches niemals verdirbt, Bäche von Milch, deren Geschmack sich nicht ändert, Bananenstauden, von oben bis unten mit Früchten beladen, dornenlose Lotusbäume, unter deren weit ausladendem Schatten die Auserwählten ruhen – auf Teppichen, deren Futter aus Brokat ist, auf Polstern, die mit Gold und Silber geschmückt sind, und wo sie bedient werden von ewig jungen Knaben, die ihnen auserlesene Speisen und köstliche Getränke anbieten, und ihnen Jungfrauen von überirdischer Schönheit zu Gattinnen gegeben werden.«
    Ja, wahrlich, das sind Vorstellungen, die einen fantasiebegabten Knaben schon mit Lust erfüllen könnten, wenn ihm nicht Gurams Stimme in den Ohren läge: »Das Reich Gottes besteht nicht in Essen und Trinken, sondern in Gerechtigkeit, Frieden und Freude durch den Heiligen Geist.« Und: »Die Auferstandenen werden weder freien noch sich freien lassen, sondern sein wie die Engel im Himmel.«
    Oder sollte ich die Stelle wählen, in der es heißt: »Und wir geboten dem Menschen Güte gegen seine Eltern; seine Mutter trug ihn mit Schmerzen und gebar ihn mit Schmerzen, und sein Tragen und Entwöhnen

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