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Schatten Gottes auf Erden (German Edition)

Schatten Gottes auf Erden (German Edition)

Titel: Schatten Gottes auf Erden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Hering
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währte dreißig Monde …«
    Schön ist das gesagt, und liebte nicht auch ich Vater und Mutter über alles? Aber dann geht es weiter: »Doch wenn sie mit dir eifern, dass du mir an die Seite setzest, wovon dir kein Wissen ward, so gehorche ihnen nicht.«
    O wie gut ich das verstand! Denn eiferte nicht meine Mutter tagaus tagein, den Sohn Gottes an Gottvaters Seite zu setzen? Und ich? Ja — ich folgte ihr!
    Als mir das in dieser Stunde bewusst wurde, brach mir der Angstschweiß aus. Und ich blickte zu Boden, um meine tiefe Beklemmung zu verbergen.
    Eine beängstigende Stille breitete sich aus. Aber mir war, als dröhnte die Erde. »Barmherziger Gott!« schrie es in meinem Inneren, »hilf mir!«
    Und er half mir. Denn ohne zu überlegen, ohne nachdenken zu müssen, formten sich mir die Worte auf den Lippen, und ich hörte mich sagen: »Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen! Der Erbarmer lehrt dich den Koran. Er erschuf den Menschen. Er lehrte ihn deutliche Sprache. Die Sonne und der Mond sind Gesetzen unterworfen, und die Steine und Bäume werfen sich anbetend nieder. Und der Himmel – er hat ihn erhöht, und die Waage, er hat sie aufgestellt, auf dass ihr wäget in Gerechtigkeit und nicht vermindert ihr Gewicht. Und die Erde, er hat sie hingestellt für die Geschöpfe, in ihr sind Früchte und Palmen mit Blüten und Früchten und das Korn voll Halme zum Lebensunterhalt. Und welche der Wohltaten eures Herrn wollt ihr leugnen, ihr Menschenkinder?«
    Bis hierher war ich gekommen, ohne aufzublicken. Nun aber, wie gehoben von den Klängen dieser feierlichen Worte, hielt ich inne und sah auf und suchte mit den Augen meinen Vater. Und erst als ich ihn entdeckte (an einer Säule gelehnt stand er reglos, und sein Gesicht schien mir männlicher und schöner zu sein als die aller übrigen, besonders, als dieser Glanz in seine Augen trat und seine Mundwinkel mir zulächelten, da er erkannt hatte, dass ich zu ihm hinübersah) – erst als ich mir bewusst wurde, dass ich für ihn sprach, um ihm Ehre zu machen, um seinen Stand zu befestigen und sein Leben zu erleichtern, flössen die Verse weiter von meinen Lippen. Als ich aber bei dem Vers angekommen war: »Losgelassen hat er die Wasser, die süßen wie die salzigen, zwischen beiden ist eine Schranke, die sie nicht überschreiten – hervor bringt er aus beiden Perlen und Korallen – und welche Wohltaten eures Herrn wollt ihr leugnen, ihr Menschenkinder?« – da winkte der Scheich mit der Hand, und ich verstummte.
    »Genug nun aus der Sure ›Der Erbarmer‹. Weißt du auch, wie die Sure TA – HA beginnt?«
    Ich antwortete: »Nicht haben wir den Koran auf dich hinabgesandt, dass du elend würdest, sondern als Ermahnung für die Gottesfürchtigen.« Und eine tiefe innere Ruhe kam über mich.
    Die Prüfung ging dann noch eine ziemliche Weile fort, wie es üblich ist, ohne dass mir weitere Einzelheiten im Gedächtnis haften geblieben wären, also muss ich wohl auf jede Frage die Antwort gewusst haben. Und sie fand endlich den von allen längst herbeigesehnten Schluss. Herbeigesehnt, da sich daran das Tafeln anschloss, an das ich aber kaum noch eine Erinnerung habe, weil der ungewohnte Wein, der trotz des Koranverbotes in Strömen floss und den man mir von allen Seiten einschenkte, mir so zusetzte, dass ich gar nicht weiß, wie ich an jenem Abend ins Bett gekommen bin. Nur eines will ich von diesem Chatamfest noch erwähnen: Ben Nisam und Abbas nahmen nicht daran teil, obwohl sie dazu eingeladen worden waren. Und als ich das bemerkte, empfand ich eine gewisse Genugtuung.
    Nicht lange darauf wurde in der Medrese der Schulbetrieb aufgenommen. Zwar mauerten die Bauleute noch an den Minaretten, aber fertiggestellt waren schon die Stockwerke, die den Studenten Obdach gewähren sollten, fertig auch die überwölbten Hallen, in denen die Lehrer ihre Schüler um sich scharten.
    Als ich das erste Mal eintrat in jenen Hof, in den ich bis da hin nur ehrfurchtsvolle Blicke durch das steinerne Gitter geworfen hatte, erfasste mich ein schwer zu beschreibendes Ge fühl. Ein Treiben herrschte darin wie auf einem Basar, nur dass hier nicht Waren, sondern Gedanken ausgetauscht wurden und sich die Beteuerungen und Schwüre nicht auf die Güte von Früchten oder Handwerkserzeugnissen bezogen, sondern auf die Echtheit von Überlieferungen und die Folgerichtigkeit von hieraus gezogenen Schlüssen.
    Aus allen Ländern, in denen der Koran gilt, strömten die Lernbegierigen zusammen, denn bis

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