Schatten ueber Broughton House
Reed gesagt, und Theo hatte bei sich gedacht, dass sein Bruder wohl ein wenig übertreibe. Doch was er heute verspürt hatte, war von derselben unbändigen Gewalt gewesen, wenngleich er es eher als einen Blitz beschreiben würde, der in ihn gefahren war.
Er begann sich zu fragen, was das wohl bedeuten mochte. Ganz gewiss nicht, dass er die neue Lehrerin der Zwillinge heiraten würde. Vor einiger Zeit schon war Theo der Verdacht gekommen, dass ihm selbst wohl die romantische Ader der Morelands fehlte. Seine Eltern, sein Bruder, seine Schwestern - selbst seine Zwillingsschwester! - hatten allesamt aus Liebe geheiratet. Er hingegen hatte sich zu vielen Frauen hingezogen gefühlt und hatte sowohl hier in London als auch auf seinen Reisen Affären mit jenen gehabt, die ungebunden und bereit zu einer solchen Beziehung waren.
Es hatte eine Frau gegeben - die findige und ehrgeizige Inhaberin eines Bekleidungsgeschäftes -, in deren Gesellschaft er sich gerne einfand, wann immer er nach London zurückkehrte. Einschließlich seiner Abwesenheiten hatte ihre Beziehung drei Jahre angedauert, und sie hatten sich in aller Freundschaft getrennt, als er bei seiner Rückkehr aus China erfahren musste, dass sie eine Verbindung mit einem beständigeren Mann eingegangen war. Theo war gerne mit ihr zusammengewesen und hatte sich in ihrem Bett vergnügt, doch hatte er nie jenes Glücksgefühl verspürt, das er bei Kyria und Olivia gewahrte, sobald sie ihre Ehemänner nur ansahen.
Er würde solches Glück als eine weibliche Eigenheit abgetan haben, hätte er nicht denselben verzückten Ausdruck im Gesicht seines Vaters bemerkt, wann immer dieser seine geliebte Duchess erblickte. Theo musste sich eingestehen, dass die Mo-relands allem Anschein nach zu tiefer und dauerhafter Liebe fähig waren, schließlich waren seine Eltern bereits seit vierunddreißig Jahren verheiratet - außer ihm, wohlgemerkt.
Deshalb war er sich auch sicher, dass es keineswegs Liebe auf den ersten Blick war, was er heute erlebt hatte - eher wohl Verwunderung darüber, dass sein einstiger Traum plötzlich im Rosengarten seiner Mutter zum Leben erwacht war.
Dennoch ... was immer es auch bedeuten mochte, er würde der Sache auf den Grund gehen. Er musste herausfinden, warum diese Frau - zehn Jahre, nachdem er eine „Vision“ von ihr gehabt hatte - auf einmal in sein Leben getreten war. Und er wollte wissen, was die Empfindungen bedeuteten, die ihn mit so unbändiger Gewalt erfasst hatten.
Theo musste daran denken, wie er gezögert hatte, London zu verlassen, obwohl Rastlosigkeit ihn plagte, und dachte an jenes unbestimmte Gefühl des Wartens, das er verspürt hatte. War es Miss Henderson, auf die er gewartet hatte? Aber wie hätte er denn wissen sollen, dass sie kam?
Kopfschüttelnd erhob er sich und ging zum Haus zurück. Bei allen Mutmaßungen war er sich eines jedoch ganz gewiss - nun würde er London auf jeden Fall so bald nicht mehr verlassen.
Während er die Treppe zur Terrasse hinaufstieg, pfiff er eine fröhliche Melodie vor sich hin und merkte es nicht einmal.
Am darauffolgenden Tag suchte Megan in Begleitung ihres Vaters und ihrer Schwester Andrew Barchester auf. Sie hätte die Unterredung lieber allein geführt, denn sie war es gewohnt, selbstständig zu arbeiten. Nun würde ihr Vater das Gespräch an sich reißen und dabei sicher völlig vom Thema abkommen. Frank Mulcahey hoffte zudem, dass Deirdre beim Anblick des Mannes, der ihren Bruder als Letzter lebend gesehen hatte, aufschlussreiche „Gefühle“ haben würde, was Megan recht unwahrscheinlich erschien. Sie hätte ihrer Schwester einen Bericht über Dennis’ Tod gern erspart. Megan selbst war daran gewöhnt, bei ihrer Arbeit schreckliche Dinge zu hören und zu sehen - Deirdre nicht.
Ihr Vater hatte jedoch darauf bestanden, sie zu begleiten. Und Megan musste ihm recht geben, dass es naheliegender war, wenn er dem Mann Fragen stellte, weil dieser doch einst ihm vom Tode seines Sohnes geschrieben hatte - und nicht ihr. Auch Deirdre war nicht von ihrem Beschluss abzubringen gewesen.
Und so stiegen sie nun alle drei die Treppe zum Haus hinauf, und Frank schlug den schweren Messingklopfer an die Tür. Als ihnen kurz darauf ein Diener öffnete, bat Frank darum, Andrew Barchester zu sprechen, und erklärte, wer er sei. Der Lakai zeigte sich unbeeindruckt und erwiderte, er wolle nachsehen, ob sein Herr zu Hause sei, schritt gemessenen Schrittes die Treppe hinauf und ließ die drei Besucher in der
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