Schatten ueber Broughton House
hatte ihre fortschrittlich denkende Mutter Miss Henderson letztlich eingestellt, das war allerdings nicht absehbar gewesen. Selbst der Duchess hätten Zweifel kommen können, ob es denn angebracht sei, ihre beiden Jungen - die bald schon das Mannesalter erreichen würden - von einer Frau unterrichten zu lassen.
Theo schüttelte ratlos den Kopf. Er brauchte Antworten auf all seine Fragen. Und bis dahin würde er ein wachsames Auge auf das Sammelkabinett seines Vaters haben - und auf Miss Henderson.
Bei dem Gedanken musste er unwillkürlich lächeln. Es sollte ihm keineswegs schwerfallen, Miss Henderson nicht aus den Augen zu lassen.
Als Megan am nächsten Morgen die Treppe hinunter zum Frühstückszimmer ging, hielt sie - den Blick stetig zu Boden gerichtet - weiterhin Ausschau nach dem Schlüssel. Sie entdeckte ihn nirgends, auch dann nicht, als sie mit den Zwillingen nach dem Frühstück wieder hinaufging.
Den ganzen Vormittag über verließ sie ihre Sorge wegen des verlorenen Schlüssels nicht, und sobald die Zwillinge ihre erste Pause machten und draußen spielen gingen, eilte Megan hinunter zum Studierzimmer des Dukes. Zu ihrem großen Bedauern traf sie ihn dort höchstpersönlich an. Er saß an seinem Schreibtisch und war in ein Buch vertieft. Hastig trat Megan den Rückzug an. Als die Jungen am Nachmittag zum Naturkundeunterricht gegangen waren, versuchte sie es abermals, kam jedoch nicht weit, denn als sie Theos Stimme nahe des Studierzimmers vernahm, eilte sie rasch wieder die Treppe hinauf.
Auf gar keinen Fall wollte sie Theo begegnen! Sie batte das ungute Gefühl, dass sie erröten würde, sobald sie ihn nur ansah. Ehrlich gesagt hoffte sie sogar, dass er heute Abend nicht zu Tische käme.
Ihre Hoffnungen wurden jäh zunichte gemacht, als sie abends mit den Zwillingen das Speisezimmer betrat. Theo stand am hinteren Ende des langen Tisches und plauderte mit Reed und Anna. Die drei drehten sich um, als die beiden Jungen hereingepoltert kamen, gefolgt von Megan.
Wie befürchtet, stieg ihr das Blut in die Wangen, als sie Theos Blick auf sich gerichtet spürte, und sah beiseite. Sie musste sich allerdings eingestehen, dass ihre Empfindungen keineswegs vom beschämten Unbehagen herrührten, sondern dass heißes Verlangen sie beherrschte.
Megan trat zum Tisch und würdigte Theo dabei keines Blickes. Sie würde sich von ihm nicht aus der Ruhe bringen lassen! Welch seltsame Macht er auch über sie haben mochte, sie würde dagegen ankämpfen und gewinnen. Sie musste gewinnen.
Doch sie war angespannt und fürchtete, dass Theo sie ansprechen könne. Kein Moment verging, in dem sie sich nicht seiner Anwesenheit und seiner Worte bewusst war. Kaum konnte sie sich darauf konzentrieren, was Thisbe ihr von dem erfolgreichen Experiment erzählte, das die Zwillinge am Nachmittag gemacht hatten.
Als endlich auch der Duke und die Duchess eintrafen, konnte das Abendessen beginnen. Megan setzte sich zwischen Thisbe und Alex. An der recht unkonventionellen Tafel der Morelands kümmerte sich niemand um die gesellschaftlichen Regeln der Sitzordnung, sondern man setzte sich, wo immer es einem gerade gefiel. Zu ihrem Verdruss musste Megan feststellen, dass Theo heute genau ihr gegenüber Platz genommen hatte.
„Miss Henderson“, sagte er mit wahrlich herzerweichendem Lächeln, „wie geht es Ihnen heute Abend?“
Megan hob das Kinn, fest entschlossen, sich durch Theos Nähe nicht verunsichern zu lassen. „Mir geht es gut, Sir. Und Ihnen?“
„Oh, mir ging es noch nie so gut wie heute.“ Er ließ seinen Blick kurz auf ihr ruhen, bevor er sich an Anna wandte, die zu seiner Rechten saß.
Da Kyria und Olivia samt ihren Ehemännern heute Abend nicht im Kreise der Familie aßen, war die Unterhaltung nicht ganz so laut und lebhaft, wie sie sonst am Tische der Morelands zu sein pflegte.
Nach dem Auftragen gedünsteter Schollenfilets trat sogar eine Gesprächspause ein. Theo meinte inmitten des Schweigens: „Vater, Miss Henderson hat deine Sammlung noch gar nicht gesehen. Mich wundert, wie du so nachlässig sein konntest.“ Megan sah erstaunt auf. Theo beobachtete sie mit unergründlichem Blick, um seine Lippen spielte ein leichtes Lächeln. Das Herz pochte ihr wild in der Brust. Er wusste es!
Ihre Gedanken überschlugen sich. Hatte er letzte Nacht gesehen, wie sie etwas aus dem Schreibtisch seines Vaters genommen hatte? Aber warum hatte er dann nichts gesagt? Und selbst wenn er gesehen haben sollte, dass sie einen der
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