Schatten ueber Broughton House
Schenke war weder eine der verrufenen Ginhöhlen noch ein Ort, wie ihn Seinesgleichen aufzusuchen pflegten, und genau deshalb mochte Theo es hier.
Er nickte dem Wirt zu, der seinen Gruß erwiderte und ihm gleich ein Bier zapfte. Derweil ging Theo zu einem Tisch in der Ecke, setzte sich und wartete.
Kurz nachdem der Wirt Theo sein Bier gebracht hatte, öffnete sich abermals die Tür der Schenke, und herein kam ein junger Mann.
Er war schlank und drahtig, hatte einen blonden, wenig sorgsam geschnittenen Haarschopf und stechende blaue Augen. Mit lautloser Anmut bewegte er sich durch den Raum auf Theos Tisch zu, gab dem Wirt ein Zeichen und zog sich einen Stuhl he-ran. Sein Name war Tom Quick, und im Laufe der Jahre hatte er verschiedentlich für den einen oder anderen Moreland gearbeitet.
„Euer Gnaden“, begrüßte er Theo und grinste. Seine Augen funkelten schelmisch.
Theo verzog das Gesicht. „Noch kannst du mich nicht mit diesem Titel ärgern, Quick.“
Er wartete, bis der Wirt einen weiteren Bierkrug auf den Tisch gestellt und Quick einen tiefen Schluck genommen hatte. Er kannte Tom gut genug, um zu wissen, dass er ihn nicht zur Eile drängen durfte. Tom war sein eigener Herr, der eher zur Unverschämtheit als zur Unterwürfigkeit neigte.
Quick war in den Slums des East End auf gewachsen und hatte sich in seiner Kindheit als Taschendieb durchgeschlagen. Er kannte weder Vater noch Mutter - seinen Namen hatte ihm der Anführer seiner Diebesbande gegeben, weil Tom so schnell und geschickt darin war, die wohlhabenden Londoner um ihre Wertsachen zu erleichtern. Wahrscheinlich wäre es ihm so ergangen wie den meisten seiner Komplizen - ein Ende in Newgate -, hätte er nicht eines Tages versucht, die Brieftasche von Reed Moreland zu stehlen. Theos Bruder hatte sofort erkannt, dass Tom durchaus intelligent und begabt war, und den Jungen nicht den Behörden ausgeliefert, sondern ihn bei sich aufgenommen, ihn unterrichten lassen und ihm Arbeit gegeben.
Mit einem zufriedenen Seufzer setzte er nun seinen Bierkrug ab und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. „Ich bin Ihrer Miss Henderson gefolgt - ganz wie Sie mir aufgetragen hatten. Sie ist zu einem netten kleinen Häuschen gegangen, dort eine ganze Weile geblieben und später dann nach Broughton House zurückgekehrt. Ich habe mich in der Gegend, wo sie ihren Besuch gemacht hat, mal ein wenig umgehört.“
„Und was hast du herausgefunden?“, wollte Theo wissen. „Das Haus ist von einem Iren gemietet worden. Niemand wusste seinen Namen, oder niemand wollte ihn mir sagen. Aber er kommt wohl öfter in die Schenken in der Nachbarschaft - na ja, kaum verwunderlich, wo er doch Ire ist, was?“
Theo ließ sich Toms Neuigkeiten kurz durch den Kopf gehen und verspürte heftige Eifersucht. Welche Beziehung hatte Megan zu diesem Mann? War er ihr Ehemann? Ihr Geliebter? Oder vielleicht ein Geschäftspartner. Es bestürzte Theo zutiefst, wie wichtig ihm die Antwort war.
„Wusste jemand, womit er seinen Lebensunterhalt verdient?“, fragte Theo schließlich.
„Konnte mir keiner was zu sagen. Er erzählt viel von Irland, aber über seine Arbeit wusste niemand Bescheid. Anscheinend spricht er nicht viel über sich, sondern immer über Sachen, die schon lange her sind.“
„Ach ja? Interessant.“
„Das ist aber noch nicht mal das Interessante“, fuhr Tom fort. Er nahm einen weiteren Schluck Bier und schien sehr mit sich und der Welt zufrieden zu sein.
„Na dann, ich höre“, sagte Theo gespannt.
„Als ich Ihrer Dame gefolgt bin, ist mir etwas aufgefallen -ich war nicht der Einzige, der ihr gefolgt ist.“
12. KAPITEL
Theo schaute Quick einen Augenblick lang verblüfft an. „Wie bitte?“
„Nachdem ich ihr heute Morgen eine Weile gefolgt war, fiel mir dieser andere Typ auf. Er nahm genau denselben Weg wie ich, und immer, wenn die Dame in ein Schaufenster guckte, blieb er stehen. Ich hab’ gleich gemerkt, dass er sie ebenso verfolgt wie ich.“
„Wer zum Teufel war das?“, fragte Theo mit bedrohlich gerunzelten Brauen.
Quick zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Hab' ihn vorher noch nie gesehen. Aber ich habe mich nicht getäuscht, denn während ich vor dem Haus wartete, wo sie zu Besuch war, lungerte er auch dort herum.“
„Hat er dich bemerkt?“, wollte Theo wissen.
Tom bedachte ihn mit einem empörten Blick. „Natürlich nicht. Ich mag zwar nicht mehr im Geschäft sein, aber Sie werden keinen finden, der besser ist als ich. Ich weiß
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