Schatten ueber Broughton House
seufzte. „Wenn ich das nur wüsste! Ich sah ein Feuer, das in einer Schale brannte und ... ein schreckliches Gesicht, hell angestrahlt ... glühend. Ich kann es nicht besser beschreiben, aber es war fürchterlich. Du warst da - und Dennis auch. Jemand hielt einen seltsamen Gegenstand in der Hand und hieb damit auf dich ein. Ein Messer war es nicht - eher eine Figur, an deren Ende sich so etwas Halbrundes befand, was wie eine kleine Schaufel aussah.“
Megan lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Sie starrte ihre Schwester an und war sprachlos. Woher konnte Deirdre wissen, wie jenes Messer aussah? Bevor Megan im Cavendish gewesen war, hatte sie selbst so etwas noch nie gesehen, und daher nahm sie an, dass Deirdre ebenso unwissend war, was rituelle Instrumente der Inka anging.
„Was ist?“, fragte Deirdre besorgt. „Warum siehst du mich so
an? Weißt du, was es ist? Hast du es dort im Haus gesehen?“ „Nein, nicht in Broughton House. Es klingt nach einem Gegenstand, der im Museum ausgestellt ist.“
„Im Museum?“
„Im Cavendish Museum, wo Julian Coffey Kurator ist.“
„Du warst dort?“
„Ja, und eines der Exponate ist ein Messer, das von den Inka für rituelle Opferungen benutzt wurde und genauso aussieht, wie du es beschrieben hast.“
„Doch was soll das bedeuten?“, fragte Deirdre.
„Ganz gewiss nicht, dass ich damit erstochen werde“, erwiderte Megan trocken. Sie wollte sich vor ihrer Schwester nicht anmerken lassen, wie sehr deren Traum sie beunruhigt hatte. Bislang hatte sie Deirdres Visionen nie ernst genommen, wenngleich sie ihre Schwester zu sehr mochte, um es als bloße Hirngespinste abzutun. Doch die Genauigkeit dieses Traumbildes konnte Megan sich nicht erklären, und sie erschauerte.
„Du meintest, dass auch Dennis in deinem Traum erschienen sei“, erkundigte sie sich und hoffte, etwas zu hören, das ihrer beider Ängste lindern würde. „Vielleicht wurde er ja mit diesem Messer umgebracht. Vielleicht ist das der Gegenstand, den er sucht.“
„Megan Deirdre hielt besorgt die Hand ihrer Schwester fest. „Ich habe Angst um dich - dort, in Broughton House.“ „Mir passiert schon nichts“, versicherte Megan ihr. „Ich verspreche dir, vorsichtig zu sein. Aber ich muss dorthin zurück, das verstehst du doch, oder? Wie sollte ich sonst herausfinden, was damals mit Dennis geschehen ist?“
„Mir ist es wichtiger, dass dir jetzt nichts geschieht, als herauszufinden, was damals geschah! “, entgegnete Deirdre aufgebracht.
„Es wird nichts geschehen, weil ich sehr wohl auf mich aufpassen kann. Und in Broughton House bin ich sicher, inmitten der Familie, der Dienstboten - niemand würde es wagen, mir dort etwas anzutun.“
Deirdre sah wenig überzeugt aus. Megan umarmte sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
„Mach dir keine Sorgen“, sagte sie zuversichtlich. „An meinem nächsten freien Tag werde ich euch wieder besuchen kommen - oder auch schon früher, sollte ich etwas finden.“
„Schreib mir, wenn dich etwas beunruhigt“, bat Deirdre. „Versprich mir das.“
„Ich verspreche es.“
Mit einem fröhlichen Lächeln verabschiedete Megan sich und lief die Straße hinunter. Sie lief schnell, sah weder nach rechts noch nach links und war viel zu sehr in Gedanken versunken, als dass sie noch an das seltsame Gefühl gedacht hätte, das sie auf dem Hinweg gehabt hatte, als sie meinte, jemand beobachte sie. In ihrer Eile drehte sie sich kein einziges Mal um.
Deirdres Traum hatte sie mehr beunruhigt, als ihr lieb war, und Megan wollte so schnell wie möglich nach Hause. Sie wunderte sich nicht einmal darüber, dass sie Broughton House nun als Zuhause empfand. Sobald sie die elegante weiße Fassade vor sich auftauchen sah und die hell erleuchteten Fenster, die in der einsetzenden Dämmerung strahlten, wurde ihr ganz leicht und warm ums Herz. Lächelnd eilte sie dem Haus entgegen.
Am selben Abend kam Theo zu später Stunde die breite Freitreppe von Broughton House herab. Er lief ein Stück die Straße entlang, winkte dann eine Mietkutsche herbei und gab dem Fahrer eine Adresse an, die vom eleganten Mayfair, wo Broughton House sich befand, recht weit entfernt lag.
Dort angekommen, betrat er eine Schenke. Er musste den Kopf ein wenig einziehen, als er durch die alte Tür trat, und blieb einen Moment stehen, um sich in dem niedrigen Raum umzusehen, der von den Pfeifen und Zigarren der Kundschaft verraucht war und nach Bier und dem Schweiß von Arbeitern roch. Die
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