Schatten über Oxford
bin?«
»Natürlich nicht«, antwortete Kate schnell.
»Das Haus steht an der Ecke Armitage Road und Cavendish Road. Irgendwann entschloss sich die Stadtverwaltung, die Hausnummern zu ändern – warum, das weiß wohl nur die Stadtverwaltung selbst. Früher muss die Adresse Armitage Road Nummer 1 oder Nummer 2 gelautet haben, heute dürfte es eine der hohen Hausnummern in der Cavendish Road sein. Vermutlich irgendetwas über siebzig. Auf jeden Fall eine gerade Zahl, denn auf dieser Seite befinden sich die geraden Hausnummern.«
Kate dachte nach. Eine hohe, gerade Hausnummer in der Cavendish Road an der Ecke zur Armitage Road?
»Vierundsiebzig vielleicht?«, fragte Kate. »Cavendish Road Nummer 74?«
»Schon möglich. Irgendetwas in dieser Richtung.« Die alte Dame klang ungeduldig. Vermutlich wollte sie mit ihrem Bericht aus den guten alten Zeiten beginnen. »Wieso? Glauben Sie mir etwa nicht?«
»Doch, doch, natürlich. Es ist nur – da wohne ich im Augenblick!«
»Na, jedenfalls ist es das Eckhaus auf dieser Seite, von dem ich rede. Und wenn Sie dort wohnen, dann wohnen Sie in High Corner. John Marlyn – der Mann, der das Haus gebaut hat – legte ziemlich viel Wert auf Status und gab dem Haus deshalb diesen etwas hochtrabenden Namen. Und Sie sagen, es heißt nicht mehr so? Nun, das wundert mich keineswegs. Das Haus gehörte Elinor Marlyn, und sie hinterließ es ihrer etwas merkwürdigen Nichte.«
Es war tatsächlich das gleiche Haus! Schnell rekapitulierte Kate, was sie darüber wusste. »Ihrer Nichte Sadie?«
»Ein komischer Name! Aber stimmt, sie hieß Sadie. Während des ganzen Krieges hat sie in einem der weiblichen Truppenteile Dienst geschoben. Sie gehörte zu den Mädchen, die gern Uniform tragen«, flüsterte Mrs Watts und lehnte sich vertraulich zu Kate hinüber. Sie roch nach Pfefferminz und einem Hauch süßem Sherry.
»Ach ja?«, fragte Kate und versuchte, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.
»Die Marlyns brachten in jeder Generation ausgesprochen willensstarke Frauen hervor. Vor Elinor war es ihre Tante Margaret. Die gehörte auch nicht gerade zu den Frauen, die gern heiraten.« Wieder warf Mrs Watts Kate einen vielsagenden Blick zu. Den Ausdruck »lesbisch« hätte sie vermutlich niemals in den Mund genommen.
»Kannten Sie diese Leute?«
»Ob ich sie kannte? Ich habe für sie gearbeitet! Und wenn man für jemanden arbeitet, lernt man ihn oft besser kennen, als man eigentlich möchte.«
»Sie haben also in High Corner gearbeitet?«
»Sie legte großen Wert auf Sauberkeit.«
»Aber was war während des Krieges? Ich dachte immer, dass alle ihre …« Kate hatte »Dienstboten« sagen wollen, besann sich jedoch eines Besseren. »… ihr Haushaltshilfen entlassen mussten«, beendete sie den Satz etwas einfallslos.
»Eigentlich wollten Sie ›Dienstboten‹ sagen, und genau genommen waren Arthur und ich das auch. Wir waren ihre Diener. Aber wenigstens kannten wir unsere Stellung«, fügte sie düster hinzu.
»Es gab also auch solche, die sich dessen nicht bewusst waren?«
»Ich will wirklich nichts gegen Arthurs Bruder Danny sagen. Zumal der Junge nicht hier ist, um sich zu verteidigen.«
Der Junge dürfte inzwischen um die achtzig sein, dachte Kate.
»Schade, dass Danny nie zur Armee eingezogen wurde. Vielleicht wäre es ihm dort besser ergangen, aber die Watts’ haben es alle auf der Brust, und außerdem hat er behauptet, dass er als Landarbeiter angestellt war.«
»Was ist aus ihm geworden?«, wollte Kate wissen.
»Er hat viel Geld verdient, und das ist ihm zu Kopf gestiegen«, erwiderte Violet Watts mürrisch. »Er. geriet in schlechte Gesellschaft und hat nie schwimmen gelernt.«
»Ach ja?« Kate konnte der Geschichte nicht mehr richtig folgen. Vielleicht war die alte Dame ja doch ein wenig senil.
»Er fiel auf der Brücke in Wheatley vom Fahrrad. Vielleicht wäre alles gut gegangen, wenn der Fluss nicht gerade Hochwasser gehabt hätte, und vielleicht hätte er sich retten können, wenn er nüchtern gewesen wäre.«
»Dann ist er also ertrunken! Wie schrecklich! Sehr alt kann er ja noch nicht gewesen sein.«
»Er hatte große Zukunftspläne. Aber der Unfall mit dem Kind hat ihn arg mitgenommen. Er hatte eben ein weiches Herz, der Junge. Er kam nie darüber hinweg, obwohl ich ihm immer wieder sagte, dass man über verschüttete Milch nicht weinen darf. Danny hatte sich vorgenommen, es bis dreißig zum Millionär zu bringen. Und wo ist er jetzt?«
»Der Friedhof ist aber
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