Schatten über Oxford
jetzt lässt sie es los.
»Geh in dein Bett, Christopher«, sagt sie. »Ich werde mir eine Strafe für dich überlegen und dir morgen mitteilen, was ich beschlossen habe.«
Ich gehe nach oben, wie sie gesagt hat, aber zuerst gehe ich zu Susie und gebe ihr von meinem Essen ab. Ich habe auch Betsy mitgenommen und gebe sie ihr zurück. Susie hat noch nicht richtig geschlafen. Sicher war sie zu hungrig dazu. Und sie schläft nie ohne ihre Betsy ein. Die Nüsse und Äpfel habe ich aufgehoben, damit wir sie morgen oder übermorgen essen können. Vielleicht bekomme ich nichts zu essen, weil ich gestohlen habe, aber sie weiß ja nichts von den Äpfeln. Das Messer habe ich versteckt, damit sie es nicht noch einmal findet. Ich habe es in mein geheimes Schatzkästchen unter den Bodendielen gelegt, wo sie es sicher nicht findet. Mein geheimes Tagebuch verstecke ich auch dort.
Ich weiß nicht, wie sie mich bestrafen wird, aber ich weiß, dass sie die Diebin ist. Sie und Danny Watts haben unsere Rationen gestohlen und selbst aufgegessen. Deshalb hat sie uns auch bei sich aufgenommen. Sie wollte nur das Essen und das Geld, das sie dafür von Mama bekommt.
13
Ich fürchte, ich kann Sie nicht ausstehen, Miss Marlyn.
Kate hatte Christophers Geheimes Tagebuch durchgelesen und saß nun da und starrte finster die letzte Seite an.
Was haben Sie am nächsten Morgen mit dem Jungen gemacht? Sie haben ihm sicher ganz schön die Hölle heiß gemacht, nicht wahr? Nein, Sie haben diese Kinder nicht geschlagen, sondern sie allenfalls an den Haaren gezogen. Trotzdem haben Sie sich der Kindesmisshandlung schuldig gemacht. Und auch der emotionalen Misshandlung. Ich glaube, dass es Ihnen Spaß machte, Ihre Schutzbefohlenen leiden zu sehen. Sie standen da und sahen zu, wie sie sich vor Ihnen wanden, nicht wahr? Sie beherrschten sie auf ganzer Linie.
Kate legte das kleine Heft unter die Abtrennung aus Balsaholz in Christophers Schachtel und verstaute sie in der Schreibtischschublade.
Reg dich nicht so auf, befahl sie sich. Du kannst nichts mehr daran ändern. Außerdem kennst du nur die eine Seite der Geschichte. Wahrscheinlich waren die beiden Kinder ganz schön anstrengend. Elinor Marlyn war ebenso wenig der mütterliche Typ wie du selbst, doch sie wurde gezwungen, zwei wildfremde Kinder auf Dauer bei sich aufzunehmen. Vielleicht waren sie zu dem Zeitpunkt, als das Tagebuch geschrieben wurde, schon seit Monaten im Haus und man begann, einander auf die Nerven zu gehen.
Bestimmt hatte sie keine Lebensmittel gestohlen. Das war wohl nur eine Idee, die sich in Christophers Kopf festgesetzt hatte. So etwas hätte sie sicher nicht getan. Immerhin stammte sie aus einer sehr angesehenen Familie – der Familie von George und Sam. Und was den Spionageverdacht anging, so war das eine typisch kindliche Erfindung. Wahrscheinlich hatten die Kinder an ihren freien Nachmittagen Geheimagent und Spion gespielt. Warum also ergreifst du ihre Partei, obwohl die zwei dir völlig unbekannt sind, anstatt zu den Dolbys zu halten?
Es ist einfach ein Bauchgefühl – ich kann nichts dafür!
Das Einzige, was mir jetzt helfen würde, wäre hochzugehen und die Familienporträts auf dem Speicher genüsslich mit dem Messer aufzuschlitzen.
Weil Sonntag war, konnte Kate nicht viel mehr tun, als den Tag mit George zu verbringen und ihn für beide so angenehm wie möglich zu gestalten. Zum Beispiel konnte sie ihm beim Anstreichen helfen oder beim Abbeizen oder bei was auch immer er dort oben in der Wohnung gerade tat. Oder sie konnte ihm etwas Leckeres kochen. Vielleicht konnte sie auch auf dem Sofa sitzen und die Sonntagszeitung lesen, während George entweder ihr etwas Leckeres kochte oder bis er vorschlug, im Pub essen zu gehen.
Und irgendwann käme dann endlich der Montag, und sie könnte Miss Arbuthnot ausfindig machen und versuchen, mit ihr zu sprechen. Sie am Sonntag zu besuchen wäre nicht sehr höflich gewesen. Immerhin war Sonntag der Tag, an dem die ehemalige Lehrerin mit ihrem Pfannkuchenhut zunächst in die Kirche ging und zweifellos anschließend den restlichen Tag mit dem Studium der Bibel verbrachte. Sicher las sie das Alte Testament, vermutete Kate. Und zwar die blutrünstigen Kapitel, die vor Mord und Totschlag geradezu strotzten.
Doch Elinor Marlyn hatte Miss Arbuthnot sicher nichts vormachen können. Die alte Lehrerin würde Kate bestimmt zu einem klareren Bild von Georges Tante, der Familie Watts und vielleicht auch dem kleinen Christopher Barnes
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