Schattenauge
mehr so hellwach gefühlt.
Und dennoch war es ein unwirkliches Gefühl, am Sonntagvormittag mit ihrer Mutter auf dem Wohnzimmersofa zu sitzen, beide einander wie Spiegelbilder zugewandt, mit hochgezogenen Beinen und der Teetasse in der Hand während der Fernseher ohne Ton vor sich hin flimmerte. Es war ein Ritual aus ferner Zeit. Ein Stück aus Zoës früherem Leben, in dem es noch keinen kleinen Bruder gegeben hatte. So unfair der Gedanke gegenüber Leon auch war: In Augenblicken wie diesen merkte Zoë, wie sehr sie es vermisste, ihre Mutter ganz für sich zu haben.
»Hat der Kleine sich benommen?«, fragte ihre Mutter und gähnte. Sie hatte noch nasse Haare vom Duschen und trug ihren blauen Bademantel, bereit, sich die Nachtschicht aus den Knochen zu schlafen.
»Ja, heute war er ein braves Monster«, antwortete Zoë. Die unausgesprochene Frage nach der neuen Freundin von Leons Vater lag in der Luft, doch ihre Mutter stellte sie nicht, und Zoë hütete sich, etwas über Andrea zu sagen. Ihre Mutter wäre sicher nicht begeistert gewesen zu hören, dass Andrea wirklich nett war – und dass Leon sie zur Begrüßung umarmt hatte.
Zoë drehte die Tasse in den Händen und starrte auf den roten Spiegel des Früchtetees. Immer noch kämpfte sie mit sich, ob sie ihrer Mutter nicht doch erzählen sollte, was heute Nacht passiert war. Aber wie anfangen? Filmriss – über eine Stunde, Mama. Erste Zeichen von Wahnsinn.
»Und bei dir?«, fragte sie stattdessen. »Wie war es denn bei Dr. Rubio?«
Ihre Mutter seufzte. »Das Übliche. Er hortet immer noch Vorräte – Hunderte von Konserven. Und ich meine wirklich: Hunderte! Ich musste fünf Kisten wegschleifen, damit das Bett vor das Fenster passte. Und den alten Monitor durfte ich auf den Dachboden schleppen.« Nachdenklich schwenkte sie den Tee in ihrer Tasse. »Ich mag ihn gern, aber manchmal erinnert er mich an die Sorte von Leuten, die glaubt, dass sich unter der Bäckerei um die Ecke geheime Labore befinden. Seit Neuestem hat er eine Kamera auf dem Fensterbrett liegen – immer griffbereit. Mir will er weismachen, er habe einfach ein altes Hobby wiederentdeckt. Dabei geht er ohnehin nie raus, um Fotos zu machen. Ich denke eher, es gibt ihm das Gefühl, Kontrolle über seine Umgebung zu haben. Irgendwie traurig, was?«
Kontrolle , dachte Zoë. Das klingt gar nicht traurig. Ehrlich gesagt klingt es toll.
Sie ertappte sich dabei, wie sie mit den Fingern auf ihrer Tasse herumtrommelte. Ihre innere Unruhe war nicht abgeklungen.
»Fängt es so an, wenn man … verrückt wird?«, fragte sie.
Ihre Mutter zog die Brauen hoch. »Ich bin kein Arzt, und verrückt ist wahrscheinlich zu viel gesagt. Na ja, Dr. Rubio ist furchtbar jähzornig und lässt inzwischen nicht einmal mehr den Postboten ins Haus. Manchmal führt er Selbstgespräche. Und er sitzt nächtelang wie besessen entweder am Fenster oder vor dem Computer. Ich frage mich, ob er überhaupt jemals schläft.« Sie seufzte. »Na ja, aber wenn man es so betrachtet: Könnte wirklich so wie bei einer Psychose sein. Man sieht Bedrohungen und Zusammenhänge, wo keine sind. Manche bekommen sogar einen richtigen Verfolgungswahn. Vielleicht sollte ich mal genauer darauf achten, wenn ich das nächste Mal bei ihm bin.«
Psychose . Eine lange Pause entstand. Das wäre Zoës Einsatz gewesen. Doch der Zeitpunkt verstrich. Ihre Mutter gähnte wieder und lehnte den Kopf ans Sofa. »Ach, genug von diesen Geschichten«, meinte sie und lächelte. »Die Arbeit auf der Station kommt mir schon zu den Ohren raus. Ich sehe schon überall Kranke. Dabei habe ich heute noch gar nicht gefragt, wie es meiner Großen geht. Du bist ein bisschen blass um die Nase, Süße.« Sie streckte ihre Hand aus und strich Zoë zärtlich eine Strähne hinter das Ohr. »Rabenhaar«, murmelte sie verträumt. »Als er jung war, hatte dein Vater auch solches Haar. Und er trug es lang, fast bis zur Hüfte. Allerdings war er schon damals eher herb als schön. Und wenn ich dich so anschaue, denke ich: Meine Güte, wie komme ich nur zu so einer wunderhübschen, dunklen Tochter?«
Er waren diese Momente, in denen Zoë ihrer Mutter so viel verzieh.
»Denkst du noch viel an ihn?«, wollte ihre Mutter wissen. »An den Jungen, meine ich?«
»Ab und zu«, sagte Zoë und nahm hastig einen Schluck Tee. Vielleicht sollte sie ihr von dem Wutausbruch auf dem Sportplatz erzählen. Doch bei ihrer Mutter war so etwas schwierig. Wort für Wort musste sie prüfen, ob ihre
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