Schattenauge
Verbrecher«, murmelte Choi verächtlich, als die Nachricht über den Minifernseher in seinem Bürokabuff flimmerte. »Das waren die doch selbst! Polizeimafia! Wollen wir wetten?«
Mir fielen an diesem Tag zwei Kisten hinunter, weil ich mich mehr auf die Nachrichten konzentrierte als auf alles andere. Choi zog mir dafür zwei Zehner vom Lohn ab und ermahnte mich, die Finger von den Drogen zu lassen.
Noch auf dem Weg zu Gizmo versuchte ich es wieder bei Rubio auf dem Handy. Natürlich ließ er mich abblitzen.
Es war einer der seltenen Tage, an dem ich Irves bei Tageslicht zu Gesicht bekam. Als ich Gizmos Höhle betrat, lümmelte er auf dem Sofa. Auf dem Tisch lagen die Reste einer Mahlzeit – rohes, schon fast eingetrocknetes Hackfleisch auf einem Omateller mit Blümchenmuster und Goldrand.
Neben dem Teller lag die Liste, die wir heute Nacht erstellt hatten. Alle Panthera der Stadt in der Reihenfolge ihres Erscheinens in meinem neuen Leben in der Stadt:
Nr. 1: »Der Wrestler« (Zoës Jäger = Marcus?)
Nr. 2: Irves
Nr. 3: Der Orientale vom Campus (Zoës Jäger = Kemal?)
Nr. 4: Gizmo
Nr. 5: »Miss Underground« (ungefährlich, lebt in den U-Bahn-Schächten, meidet alle anderen = Eve?)
Nr. 6: »Trenchcoat« (Stadt verlassen? = Marcus? Kemal?)
Nr. 7: »Glatze«, Zeitungsverkäufer (= Marcus? Kemal?)
Nr. 8: »Jongleurin« (= Eve?)
Nr. 9: Martha Mayer (betreibt den Schrottplatz, Rand Weststadt)
Nr. 10: Barb
Nr. 11: Julian (Zoës Jäger)
Nr. 12: Maurice
Nr. 13: Rubio (Seher!!! Mörder!)
(Nr. 14: Gil)
Nr. 15: Zoë
Gizmo klickte sich von einer Webcam zur nächsten.
»Hi«, meinte er nur, ohne mich anzusehen. »Irgendwas Neues von Rubio?«
Ich schüttelte den Kopf. »Lass mich mal an den Rechner, vielleicht hat er mir inzwischen auf meine Mails geantwortet.« Nicht, dass ich viel Hoffnung hatte.
Gizmo stand auf und setzte sich an das andere Ende des Sofas. Obwohl Irves und er sich lässig gaben, lag Spannung in der Luft. Drei von uns auf engstem Raum. Nur eine Bruderschaft , dachte ich. Sind wir das? Und nicht mehr?
Ich setzte mich an den mittleren Schirm und tippte meine Provideradresse ein. Auf dem rechten Schirm flimmerten die Nachrichten mit ausgestelltem Ton. Wieder mal Erwin.
»Das heißt, es können mindestens acht von denen gewesen sein«, sagte Irves. Hinter mir raschelte es, als er die Liste an sich nahm. »Vorausgesetzt, wir rechnen Miss Underground mit. Aber welcher von denen läuft hier plötzlich Amok?«
»Rubio weiß es vielleicht«, antwortete ich. »Und ein paar von den anderen scheinen auch etwas gerochen zu haben. Vielleicht ist Trenchcoat tatsächlich aus der Stadt verschwunden, weil er seine Haut retten wollte.«
»Vielleicht liegt er aber auch unter irgendeiner Plane und wartet auf Rentner Erwin und den Leichensuchdackel«, erwiderte Gizmo trocken.
Mein Herz machte einen Satz. Posteingang: Mail von Rubio! Allerdings war sie von gestern. Er hatte die Nachricht direkt nach meinem Abgang geschrieben. Die Botschaft war bestechend einfach gehalten:
WENN DU NOCH EINMAL VOR MEINEM FENSTER HERUMSTEHST, ERSCHIESSE ICH DICH OHNE VORWARNUNG!
»Vielleicht ist es auch nur irgendeine Mafia-Geschichte zwischen den Älteren«, sagte Gizmo. »Späte Rache. Wenn es wirklich eine Gemeinschaft gab, wie Rubio sagte, begleicht einer von denen möglicherweise alte Rechnungen.«
»Klar«, meinte Irves ironisch. »Zombiecat Pablo ist aus dem Grab zurückgekehrt. Oder vielleicht ist es sogar Rubio selbst? Was, wenn er aus dem Rollstuhl springt, sobald keiner mehr hinschaut?«
»Das glaube ich nicht. Hast du ihn gesehen? Außerdem hat Rubio selbst Angst«, gab ich zurück, während ich meine Antwortmail tippte:
Wenn es so weitergeht, kannst du dir die Kugel sparen. Zwei aus der Gemeinschaft sind tot. Wer ist der Nächste, Rubio? Und warum? Wer gehörte zu eurem Club? Du kennst ihre Schatten – wer ist stark genug, um Maurice umzubringen?
»Wenn es eine Sache zwischen den Hundefressern wäre, könnten wir uns ja eigentlich ganz entspannt zurücklehnen und abwarten«, meinte Irves lakonisch. »Bleibt mehr Patz für uns.«
Er hatte mich schon heute Nacht am Telefon mit seiner übertriebenen Coolness genervt. Aber in Augenblicken wie diesen hätte ich ihn schlagen können.
»Warum jetzt?«, sagte Gizmo nachdenklich. »Warum gilt der Kodex seit so vielen Jahren – und jetzt auf einmal dreht einer durch? Was ist da passiert?«
»Ich wette, Rubio weiß es«, meinte ich. »Aber vielleicht bekomme ich auch noch
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