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Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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bleiben, weil er es nicht schaffte, sich als Mensch auf dem Weg zu zeigen. Wegen der vielen Spaziergänger. Er konnte, obwohl er es mir versprochen hatte, nicht mehr Mensch sein, wenn so viele Fremde zusahen.
    Sjöll schüttelt den Kopf. «Die werden sich nicht verwandeln.»
    «Soll ich sie fragen?» Hier im Wald gibt es keine fremden Menschen, hier bin nur ich.
    Sjöll lacht. «Was soll das nützen? Selbst wenn sie dich verstehen würden. Sie können nicht antworten.»
    «Was? Es sind doch Menschen.»
    «Es waren mal Menschen. Aber das haben sie lange vergessen.»
    «Sie haben ihre Namen vergessen?»
    «Alles, Luisa. Nicht nur ihre Namen. Mein Name ist auch verschwunden. Sjöll ist nur ein Wort. Niemand heißt Sjöll. Trotzdem kann ich noch zum Menschen werden. Die anderen, Jerro, Fath und Rawuhn, Krestor und Lurnak, haben viel mehr vergessen. Alles, was sie zum Menschen macht.»
    «Du weißt gar nicht, wie sie wirklich aussehen? Ihre richtige menschliche Gestalt, meine ich?»
    «Nein.» Sjöll trägt eine neue Ladung Laub fort. Als sie zurückkommt, sagt sie: «Doch, Rawuhn habe ich noch als Menschen gesehen, einmal.» Sie lächelt, und ihre Augen suchen die Ferne. «Er hatte ganz helle Haare. Es heißt, sie seien mal blond gewesen.»
    «Aber du hast seine wirklichen Farben nie gesehen?»
    «Nein, er kam lange vor mir. Thursen hat es mir erzählt. Thursen kannte ihn. Hat ihn herkommen sehen. Thursen ist noch vor Rawuhn Wolf geworden.»
    Da weiß ich es. Weiß es so sicher, wie man weiß, dass man irgendwann sterben wird: Auch Thursen wird Wolf werden. Ganz Wolf, für immer. Nie mehr als Mensch zu mir zurückkommen. Mich nie mehr in die Arme nehmen, nie mehr küssen. Das muss der Preis sein, von dem Thursen mir erzählt hat. Das ist der Preis, den er zahlt. Sein Menschenleben. «Wie viel Zeit bleibt Thursen noch?», denke ich. Und erst als Sjöll antwortet, merke ich, dass ich die Frage laut ausgesprochen habe.
    Sie zuckt die Schultern. «Er ist doch schon über die Zeit.»
    Nein! Jetzt wo ich weiß, dass wir zusammengehören,egal, was auch immer er ist, jetzt soll ich ihn wieder hergeben? Ich brauche mehr Zeit! «Thursen kann doch noch Mensch werden!» Ich erschrecke über meine Stimme, die als dünnes Fädchen aus meiner zugeschnürten Kehle kommt.
    «Es ist ihm in letzter Sekunde wieder eingefallen. Wegen dir.» Sjöll wirft einen Knüppel aus dem Weg, moosgrün und morsch. An einem Baustamm zersplittert er. Sie seufzt. «Keiner mehr da, um zu helfen. Da müssen wir die Blätter wohl selbst tragen.»
    Um ein Haar hätte ich Thursen nie kennengelernt! Nie mit ihm gesprochen! Hätte nie das warme Gefühl gekannt, wenn er mich ansieht!
    Eine kleine Stimme in mir sagt: Nicht kennengelernt, weil du tot gewesen wärst. Du wärst gesprungen, wenn er dich nicht gehalten hätte. Die Stimme hat recht. Da wäre kein Leben gewesen, in dem ich ihn hätte vermissen können.
    «Und du, Sjöll?», frage ich, denn es ist ja nicht nur Thursen, den ich verlieren werde. «Hast du keine Angst davor, nie mehr du zu sein?»
    «Angst?» Sie sieht mich an, als würde ich sie fragen, auf welchem Erdteil wir leben. «Ist das nicht der Sinn? Vergessen, was war? Das ganze beschissene Menschenleben hinter sich lassen, ohne sterben zu müssen? Leben, aber ohne diese entsetzliche Angst? Hör doch die Wölfe! Hörst du ihre Freude am Jagen?»
    Der Wind trägt Hetzlaute zu mir. Vorher hatte ich nicht darauf geachtet. Ich gönne Thursen die Jagdfreude. Aber noch mehr will ich, dass er Mensch bleibt. Für mich.
    Thursen verlieren? Ich halte diesen Gedanken nicht aus, der zu groß ist für meinen Kopf, zu kantig, und voninnen schmerzhaft an der Schädeldecke reibt. Da wollen schon wieder Tränen kommen. Kann man seine Augen auch irgendwann leer weinen, sodass, wie bei einem ausgetrockneten Brunnen, irgendwann einfach nichts mehr nachkommt? Ich fingere mit erdigen Händen ein Papiertaschentuch hervor und wische mir über die Wangen. Versuche, nicht laut zu schluchzen, obwohl meine Brust so eng ist. Atme. Langsam und tief, bis ich wieder ruhiger werde. Sjöll war in der Höhle und kommt erst zurück, als ich wieder einigermaßen im Gleichgewicht bin. Sie sieht mir wohl an meinen roten Augen an, dass ich geweint habe, aber sie fragt nicht, warum. Natürlich nicht. Gemeinsam knien wir uns hin und raffen neues Laub zusammen.
    Wie zum Trost blinzelt ein Sonnenstrahl durch das schüttere Blätterdach und spiegelt sich in Sjölls Ohrring. Da fällt mir

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