Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
wenn sie Wolf ist.»
«Aber so ganz traust du ihr noch nicht, was?» Ich zeige auf das Seil, Gabriellas Seil, das er immer noch umgeschlungen hat. Heute trägt er es schräg über der Schulter wie ein Cowboy sein Lasso.
Er fährt mit der Hand über die Schlaufen. «Besser, wir passen ein bisschen auf sie auf. Übrigens: Danke für die Jacke. Nett, dass du sie besorgt hast.»
«Kein Problem.» Ich verstaue die Plastiktüte im Rucksack, der vor meinen Füßen steht. Verschließe den Rucksack und richte mich wieder auf.
Thursen sieht mich an mit seinen seltsamen grauen Augen. Ernsthaft und eindringlich. Und ich fühle seine Blicke, als würde er meine Haut berühren. Ich schlucke, muss die Stille überbrücken. Schnell etwas sagen. Schnell, bevor mich meine Angst vor dem Schmerz, ihn zu verlieren, und das Verlangen, mich in seine Arme zu werfen, in der Mitte durchreißen wie ein mürbes Stück Stoff. Ich schlucke und bin selbst überrascht, wie normal meine Stimme klingt.
«Was macht ihr eigentlich normalerweise mit dem Geld, das ihr sammelt?», frage ich Thursen.
Er zieht einen Mundwinkel hoch. Kein Lächeln, aber fast. «Jacken kaufen?»
«Und wenn alle eine haben? Bleibt ihr dann hier und sammelt kein Geld mehr?»
Er hat die Hände in den Manteltaschen, zuckt die Schultern. «Geld braucht man immer. Dann kaufen wir was anderes. Manchmal Süßkram. Früher Sjölls Malsachen.»
«Sjöll hat gemalt?»
«Hat sie das nicht erzählt? Den ganzen Sommer über. Willst du die Bilder sehen?»
ZWÖLF
Aus einem morschen, hohlen Baumstamm holt Thursen eine abgewetzte Supermarkt-Plastiktüte, die zu einem Päckchen gewickelt ist. Er schüttelt einen Ohrenkneifer aus den Falten, dann öffnet er die Verpackung und zieht einen kleinen roten Skizzenblock hervor. Postkartengroß.
«Warum hatte Sjöll den nicht bei sich?», frage ich, als Thursen mir den Block reicht. «Er hätte doch bequem in ihre Tasche gepasst.»
Thursen verzieht das Gesicht. «Und wäre jedes Mal mitverwandelt worden? Dann hätte sie sich das mit den Farben doch gleich sparen können.»
Ich nicke und schlage das Deckblatt zurück. Ein kleines Boot mit weißen Segeln dümpelt auf einem See.
Es sind wunderschöne, helle Bilder. Freudiger Buntstift auf Papier. Winzige grünbraune Enten. Kaninchen. Eichhörnchen in den Ästen. Und fast immer Sonnenschein.
Thursen sieht mir über die Schulter. «Sie hat sich ihre eigene Welt gemalt. Nicht so, wie sie wirklich war. Das hier sind Sjölls Träume», sagt er.
Ich blättere weiter. Ein sonnengelbes Haus, blitzblaue Fenster, der Rasen davor voller Gänseblümchen. Eine Insel im blauen Meer. Ein braunes Pferd auf einer Blumenwiese. Aber auch Bilder mit Menschen. Bilder der Umgebung hier. Von Sjölls Welt. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Und als Thursen «Guck mal, da bist du» sagt und ich mich, eingekuschelt in meine dicke Jacke, unter einem Baum erkenne, neben mir Sjöll, da muss ich weinen. Ich dachte immer, sie mag mich nicht sonderlich. Stattdessen sehen wir wie beste Freundinnen aus. Stehen nebeneinander, als kennten wir uns schon ewig. Als hätten wir uns gerade wichtige Geheimnisse anvertraut.
Ich blättere weiter. Alle Bilder sind aus der Entfernung gemalt. Blicke durch den Wald. Über den See. Menschen im Lager, kleiner als mein Daumen, mit ihren Wölfen. Ein Mensch lehnt an einem Baum und raucht. Ist das Norrock? Sjöll geht nie näher heran. Kein Gesicht ist wirklich zu erkennen.
Die letzten Zeichnungen sind anders. Nur Skizzen, Bleistiftstriche auf Papier. Wolfsgesichter, aufgeregt, blitzende Zähne, funkelnde Augen. Wölfe bei der Jagd. Und ein flinkes Reh.
«Nicht nur Wildschweine?», frage ich.
«Sjöll hat immer gesagt, wenn man zu viele Schweine jagt, wird man selbst irgendwann eins», sagt Thursen.
«Und sie liebte die Jagd. Sie hat es mir ja erzählt.» Ich seufze. «Die Bilder sind so wunderschön. Was hätte aus ihr noch werden können!» Wenn sie noch ein bisschen länger gelebt hätte …
Vom Waldrand her höre ich Norrock und Gabriella streiten. «Nein, ich will das nicht», ruft sie, ein Schluchzen in der Stimme. Schlägt mit den Fäusten nach Norrock. Läuft ein paar Schritte in den Wald. Wirbelt mit wütenden Tritten Blätter auf, die sich um sich selbst drehend wie betrunkene Vögel zu Boden schweben. Norrock packt Gabriella am Oberarm, schüttelt sie und holt sie zurück. Sie tritt nach ihm. Da lässt er sie sich auf einen Baumstumpf setzen und kommt zu Thursen
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