Schattenblüte. Die Erwählten
fesselst du ihn dann überhaupt?», fragt Polmeriak.
Ich schüttle den Kopf. «Damit er nicht versucht zu fliehen und seine Leute zu warnen, ehe alles vorbei ist!» Sind die anderen wirklich so naiv? «Er ist immer noch einer von ihnen. Ich wette, dass auch die Shinanim ihre Leute Eide schwören lassen.»
«Ich bin nur ein Novize!», seufzt Edgar. «Meint ihr, eine Gruppe, die so mächtig ist wie die Shinanim, lässt einen wie mich irgendwelche Eide schwören?»
«Ende der Diskussion», knurrt Norrock und zieht den letzten Knoten ohne nachzudenken nach Wolfsart mit den Zähnen fest. «Hier!» Er reicht Polmeriak den Strick. «Kannst ihn an der Leine führen!»
Zrrie, die Wölfin, läuft zu Edgar und drückt ihren Kopf an seine Schulter. Er hockt sich vor sie, schließt die Augen und legt seine Wange an ihr Fell. Ich sehe seinen Lippen an, dass er ihren Namen murmelt. Immer wieder. Zrrie. Sie jault leise. Zittert, dann schafft sie es, noch einmal für einen winzigen Moment Mensch zu werden. Es macht mir Angst, wie schnell es bei ihr gegangen ist. Gerade war sie noch Zrrie, das Mädchen, bald wird sie ganz zum Wolf werden. Vielleicht hat sie sich gerade schon zum letzten Mal verwandelt. Anders als Norrock hat sie keine Wut, keinen Hass, der sie ans Menschenleben bindet.
Edgar sieht sie an, überrascht, sieht ihr in die Augen, sie bringt es gerade noch fertig, einen Kuss auf seine Wange zu drücken, ehe das Wolfsfell sie wieder einhüllt und die Verwandlung beginnt. Edgar seufzt auf. Er versucht, sie mit den gefesselten Händen zu umarmen, doch es gelingt ihm nicht. Dann ist sie wieder Wolf.
Als ich meine Fingernägel in den Handballen spüre, merke ich, wie meine Hände ganz von selbst zu Fäusten geworden sind. Ich weiß noch, wie verzweifelt ich gegen die Verwandlung gekämpft habe, um Luisa in den Armen zu halten, so lange wie es ging. Kann Zrrie sich wirklich in den paar Tagen in den Shinan-Novizen verliebt haben? Sie sind ein seltsames Paar. Ich weiß nicht, ob ich sie beglückwünschen soll, dass sie einander in all der Wirrnis gefunden haben, oder ob sie mir leidtun. Zrrie wird mit uns kommen. Vielleicht sehen sie sich nie wieder. Einen Moment lang hocken der Engelssohn und die schwarze Wölfin noch beieinander, während wir anderen uns einer nach dem anderen von Rieke, Norrock und Polmeriak verabschieden.
Als Zrrie sich uns anschließt, blickt Edgar einen Moment ins Leere. Hätten nicht die Werwölfe die besten Ohren von allen, würde ich annehmen, dass er etwas hört, das wir nicht hören. Dann spricht er, laut und deutlich. «Wartet! Kann ich noch mal pinkeln gehen, bevor es losgeht?»
Das ist so absurd, dass wir alle in Gelächter ausbrechen.
«Ey, piss dir doch in die Hose!», stößt Mauriks hervor.
«Bitte», sagt Edgar. «Es ist dringend!»
So genau will ich das wirklich nicht wissen. «Na gut», sage ich.
Er hält mir die gefesselten Hände hin. Recht hat er; wenn ich keine Lust habe, ihm die Hose aufzumachen, dann sollte ich wohl seine Fesseln lösen. «Hättest du das nicht eher sagen können?», frage ich und knibble mit meiner gesunden Hand an Norrocks Knoten herum.
«Habt ihr mich gefragt, ob ich gefesselt werden will?»
«Geh nicht so weit!», sage ich ihm. «Rawuhn wird mitgehen und aufpassen, dass du nicht abhaust.»
«Danke», seufzt Edgar, streckt seine Hände und massiert seine Handgelenke. Waren die Fesseln tatsächlich so fest?
Dann dreht er sich um und rennt. Er flieht tatsächlich! Sofort setzen wir ihm nach, nicht nur ich, auch die Wölfe. Norrocks schwarzes Fell wischt an mir vorbei. Trotzdem wird Edgars Abstand immer größer. Er mag ein kleiner Novize sein, das Eilen beherrscht er wie ein richtiger Shinan. Es sieht aus, als würde er ganz normal laufen, doch er ist so schnell, dass man den Eindruck hat, der Boden würde sich unter ihm rückwärts bewegen. Mühelos, und trotzdem unwirklich schnell. Dann ist er zwischen den Bäumen verschwunden. Obwohl ich keine Chance habe, renne ich. Denn ich habe ihn losgebunden. Ich bin dafür verantwortlich, dass wir ihn wieder einfangen, bevor er uns verrät. Verdammt, ich bin auf Edgar hereingefallen! Er darf uns einfach nicht verraten.
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55. Luisa
WIR rennen, versuchen Edgar zu folgen, der in atemberaubender Geschwindigkeit im Zickzack zwischen den Stämmen verschwindet. Das ist Edgar, da vorne! Seine Silhouette verschwimmt zwischen den Bäumen. Ich kann es nicht glauben. Edgar ist nett! Die ganze Zeit,
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