Schattenblüte. Die Erwählten
abschwellender Heulton das riesige Gebäude. Jetzt haben wir keine Chance mehr, unseren Plan heimlich auszuführen und unbemerkt zu verschwinden. Das unerträgliche Getöse flutet die Räume wie Meereswellen, die wieder und wieder an den Strand branden.
«Was jetzt?», flüstere ich und sehe mich hektisch nach einem Fluchtweg um. Die Wölfe sind schon weiter.
Thursen legt mir seine Hand auf den Rücken. «Jetzt müssen wir uns beeilen», raunt er. Gemeinsam laufen wir durch das Zimmer, hinaus auf den Gang. Immer noch Alarm. Alles ist in grelles Licht getaucht.
«Dachtest du wirklich, die Shinanim machen es uns so einfach?», fragt Thursen.
Da vorne sind unsere Wölfe! Mauriks lässt gerade einen Shinan zu Boden fallen. Ohnmächtig bleibt er liegen. «Wo lang jetzt?», fragt Mauriks. Sieht mich an. Meint er, ich kenne hier jeden Gang? Ich bin in einer Kiste hineingetragen worden und über das Dach geflüchtet!
«Wohin wir müssen? Fragen wir mal.» Thursen grinst, wie ich es sonst nur von Norrock kenne. Hinter dem Empfangstresen steht ganz allein ein junger Mann, der uns mit schreckgeweiteten Augen ansieht. Bestimmt ist er ein Shinan, doch in seiner Angst wirkt er kein bisschen übermenschlich. Verfluchter Alarm, der in unseren Ohren gellt. War er es, der ihn ausgelöst hat? Mauriks greift den Shinan am Kragen und zieht ihn mit einer einzigen Bewegung über die Theke. Hat Norrock inzwischen das Tor geöffnet und schickt den Werwölfen Kraft? Wie kann Mauriks sonst so etwas fertigbringen?
«Wo ist Vittorio?», fragt Thursen.
«Er ist zurzeit nicht in seinem Raum, er ist –», beginnt der Unglückliche.
«Wo?», knurrt Mauriks, laut genug, um den Alarm zu übertönen. Er lässt sein Schattenfell und seine Wolfszähne aufblitzen und dreht seine Hand am Kragen um, sodass dem Shinan die Luft abgeschnürt wird. Der rudert mit den Armen. Versucht er etwa, Mauriks mit seinen Feuerhänden zu verbrennen? Irudit, ganz Wölfin, springt mit einem Satz auf die Theke und knurrt dem Opfer mitten ins Gesicht.
Das reicht offenbar. «Treppe. Ganz nach oben», stottert der Shinan. «Links.»
Thursen lächelt ein zufriedenes Wolfslächeln. «Welche Tür?»
«Da ist ein Bild … die dritte Tür … rechte Seite.»
«Danke vielmals!» Mauriks schlägt auch diesen Shinan k.o., ein leichter Klopfer mit der Faust, mit nicht mehr Kraft, wie es scheint, als andere Leute aufwenden, um ihr Frühstücksei zu öffnen. Als Mauriks ihn loslässt, sackt der Shinan zu Boden und bleibt dort liegen. Die ersten Wölfe sind schon die Stufen hinauf. Immer noch heult der Alarm.
Und dann ist es auf einmal wieder still. Doch der Alarm hat nur seine Gestalt geändert. Statt Lärm empfangen uns Warnleuchten. Orangegelbe Blinklichter verwandeln die Flure in gespenstische Höllenszenarien. Ein Gitter wächst vor uns aus der Wand, will die Treppe absperren. Mauriks und Glowen werfen sich dagegen und halten die Gittertür offen, bis wir hindurch sind. Zur nächsten Treppe. Aufwärts. Irudit ist an der Spitze, jagt die Stufen hinauf. Hinter uns verschließt sich der Rückweg mit metallischem Klicken. Ich keuche, doch ich halte Schritt. Schnell, schnell, bevor die Shinanim kapieren, was los ist, oder wir kommen hier nie wieder lebend heraus.
Da eilen uns auch schon die ersten Shinanim entgegen. Werden nicht aufgehalten, nicht bekämpft, sondern einfach weggestoßen. Die Werwölfe vor uns werfen die Shinanim zur Seite, als wögen sie nichts. Wir stoppen nicht.
Aus den Seitengängen dringen Schreie, Gebrüll. Und da ist der Geruch von Blut hinter uns. Shinanim-Blut. Als Mauriks, Glowen und Irudit unsere Angreifer aus dem Weg räumten, sind sie gegen die steinernen Wände geprallt. Rawuhn, Jerro und Fath haben mit den Zähnen zugefasst und sie auf den Boden geschleudert. Aus den Seitengängen kommen immer mehr, greifen nach uns. Wir bleiben nicht stehen, wir laufen weiter. Schnell jetzt!
Vier Shinanim kommen uns entgegen, die anders sind, nicht hektisch und kopflos. Sie kommen uns entgegen, ganz nah nebeneinander, Ellenbogen an Ellenbogen. Die Flammenhände erhoben, greifen sie uns an wie Gottheiten aus heidnischer Zeit. Feuerschleppen hinter sich her ziehend und viel zu schnell für Menschen eilen sie uns entgegen. Das ist kein Kampf, so muss der Weltuntergang aussehen. Die Apokalypse, wenn die Engel die Welt vernichten. Hinter uns das Blut und die Schreie, und vor uns eine Schar wütender Engel, aus deren Händen Flammen lodern.
Erschreckt bleiben wir
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