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Schattenblüte. Die Erwählten

Schattenblüte. Die Erwählten

Titel: Schattenblüte. Die Erwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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schreiten wir zum Fuß der Treppe, die anderen Shinanim hinter uns. Zwei Männer in dunklen Anzügen untersuchen die Treppe. Haben sie einen Grund, so misstrauisch zu sein? Wäre Vittorio ein Politiker, könnte man möglicherweise mit einem Attentat auf diesen mächtigen Mann rechnen. Präsidenten werden ermordet, selbst ein Attentat auf den Papst hat es schon gegeben. Doch das waren Menschen. Wer würde es wagen, Vittorio etwas anzutun, Vittorio, der von all dem, was auf Erden wandelt, einem leibhaftigen Engel am nächsten kommt?

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    10. Luisa
    NERVÖS lecke ich meine Lefzen. Immer noch dunkel. Immer noch in diesem Kasten. Die Pfoten eingeschnürt im Netz. Brummen macht meine Ohren taub. Benzin beißt in meiner Nase. Auto, sagt eine vergrabene Erinnerung. Wir fahren. Bin ich schon mal gefahren? Ich kollere in der Kiste hin und her und schlage mit meinen wunden Stellen gegen die Wände.
    Dann hört es mit einem Mal auf zu brummen, zu schütteln. Endlich Stille. Schritte, die näher kommen. Fremder Geruch, fast Mensch und doch nicht. Etwas quietscht. Ein Luftzug. Neuer Geruch kommt durch die Ritzen der Kiste. Fremder Geruch. Kein Wald. Doch es bleibt dunkel. Ist Nacht? Vielleicht. Da ist so ein dickes Tuch mit Silberfäden über meiner Kiste, das riecht wie lange vergessen. Scharren. Wieder Schütteln, Schritte klappern auf hartem Boden. Ich werde in meiner Kiste getragen. Was geht hier vor? Ich muss es wissen! Stimmen, die ich nicht verstehe, wechseln Worte. Es gibt nur eins, was ich tun kann.
    Da werde ich Mensch.
    Doch es war zu spät, sie sind schon verstummt. Offenbar haben sie mich abgesetzt, irgendwo. Wir sind nicht draußen, dafür ist es nicht kalt genug. In einem Gebäude also. Ich kann nichts sehen, weil das Tuch die Ritzen in der Kiste verhängt. Ich bin in Menschengestalt, doch immer noch gefesselt und eingewickelt in einer verdammten Transportkiste! Wo bin ich hier? Warum reden sie nicht? Ich versuche, mich zu bewegen, zu drehen und auf die Knie zu kommen. Mein Shirt klebt an der Wunde. Ich will hier raus!

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    11. Elias
    ENDLICH erscheint Vittorio in der geöffneten Flugzeugtür. Das also ist er. Vittorio. Was habe ich erwartet, ich kannte doch seine Bilder? Nein, er ist tatsächlich nicht groß und auf den ersten Blick auch nicht eindrucksvoll. Vittorio ist ein kleiner Mann, schmal und drahtig, mit rundem Gesicht und einem Kranz dunkler, schon grau werdender Haare um seine Halbglatze. Er sieht aus wie eine seltsame Mischung aus Mahatma Gandhi und dem Kater meiner Nachbarin.
    Dann steigt Vittorio langsam die Treppe zu uns herab, und mit jedem Schritt, den er tut, kann ich mehr spüren von der Faszination, die diesen Mann umgibt. Ich ahne, warum der Rat ihn einstimmig zum Mächtigsten von uns allen gewählt hat. Je näher er kommt, desto besser kann ich seine Augen sehen. Braune, flinke Augen, mit denen er die Umwelt in Windeseile abzutasten scheint. Er hat schlanke und doch kräftige Hände, die nicht nur das Geländer der Flugzeugtreppe im Griff haben. Das da sind Füße, die nicht nur auf der Treppe unverzagt voranschreiten, sondern auch sonst stets bereit sind, neue Wege zu gehen. Ich habe so viel über Vittorio, seinen Werdegang gelesen, und jetzt finde ich das alles bestätigt. Wir stehen aufgereiht wie zu einem Staatsempfang, wie sollten wir auch sonst so einen Mann begrüßen?
    Vittorio schreitet an uns vorbei, sein Blick fliegt über meine Begleiter und bohrt sich dann in mich. Und obwohl er kleiner ist als ich, fühle ich mich, als würde er mich überragen. Ich weiß es einfach: Er betrachtet mich wie ein offenes Buch, scheint mühelos und freundlich in mir zu lesen, selbst Dinge, die auf meinen verborgenen Seiten stehen. Er sieht meine Narbe am Hals, ahnt meine Wissbegier, kennt meine Bildung, meine Moral, meine Ziele. Vielleicht weiß er sogar von meinem verletzten Bein, das ich törichterweise zu verbergen suchte. Warum sollte ich mich verstellen, alles scheint ja doch offen dazuliegen vor seinen Augen. Ich erwidere seinen Blick, wage, ihm in die Augen zu sehen, versuche, in ihnen zu lesen wie er in meinen. Doch über ihn erfahre ich nichts. Natürlich macht er es mir nicht so einfach.
    Josias, eben war seine Schulter noch auf gleicher Höhe mit meiner, schiebt sich einen halben Schritt nach vorn. So leicht lässt er sich von seinem Platz als Dekan, als Wichtigster, Ranghöchster der Hauptstadt, nicht verdrängen. Vittorio begrüßt ihn zuerst.

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