Schattenblüte. Die Erwählten
Kurz und mit angedeutetem Lächeln schüttelt er die Hände von Josias und anschließend von Helena, und so fort, ganz dem Rang und dem Alter entsprechend. Und dann, nach einem winzigen Aufatmen, wie wenn er einer lästigen Pflicht nachgekommen wäre, wendet sich der Mächtigste von allen wieder mir zu. «Elias?» Seine Stimme nimmt mir den Atem. Sie ist süß wie brauner Sirup und gleichzeitig geschmolzener Stahl, der jeden Moment zur Klinge werden kann.
Das wäre jetzt mein Zeichen, ihn persönlich zu begrüßen. Ich war mir sicher, dass ich ein paar nette, charmante Worte sagen würde, wie immer, wenn ich auf interessante Fremde treffe. Doch zum ersten Mal in meinem Leben bleibt mein Kopf leer, mein Mund stumm. Ich schlucke und sage nur: «Vittorio.»
Er schüttelt meine Hand, und fast ist mir, als würde er zwinkern. «Das ist also der junge Mann, den ich unbedingt kennen muss.»
Inzwischen sind auch Vittorios Begleiter die Treppe herabgekommen.
Sie sind Vittorios Schatten, sein Gedächtnis und sein verlängerter Arm. Sie begleiten ihn auf seinen Reisen, genau wie sein Koch und sein Leibdiener, die vermutlich noch in der Maschine sind. Die Begleiter sind zwei Frauen, eine jung und eine alt, und ein Mann. Ich habe Bilder gesehen. Ich habe sie auf Veranstaltungen aus der Ferne beobachtet. Der Mann im Anzug, dunkelhäutig und sein kurzes krauses Haar ergraut, das ist Jordan aus Ghana. Die fast magere, sonnengeknitterte Frau mit den rotbraunen Haaren im blauen Kostüm, Esther aus Israel, ist ebenso bekannt wie Felicity aus Vancouver, die junge Frau mit blonden Haaren im grauen Hosenanzug. Auch ihnen schüttele ich die Hand, Felicity ist kühl und sachlich, Jordan begrüßt mich mit mehr Herzlichkeit, Esther aufmerksam wie ein Vogel. Dabei stelle ich fest, dass Felicity doch nicht ganz so jung ist, wie sie auf den Fotos wirkt. Das also sind die vier, die unsere Geschicke leiten. Die vier wichtigsten Shinanim in unserer Welt. Und gleich, im Hauptquartier am Potsdamer Platz, werde ich vor ihnen sprechen. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Ich atme ein paarmal unauffällig tief durch, um mich zu beruhigen. Zittern und aufgeregtes Gestammel kann ich mir vor ihnen weiß Gott nicht leisten.
Gerade als ich ein paar Worte mit Esther wechseln will, drückt sie ihre Hand ans Ohr. Lauscht. Hat sie dort ein Headset? «Ich bitte um Entschuldigung.» Sie unterbricht Vittorios Wortwechsel mit Josias mit einer schnellen Handbewegung. Vittorio lässt Josias stehen, geht zu ihr, und sie besprechen sich. «Schneller als erwartet», höre ich seine süße Rasierklingenstimme.
«Verzeihung, Josias», wendet Vittorio sich wieder an uns. «Neue Ereignisse erfordern, dass wir unsere Pläne ändern. Unser Treffen im Hauptquartier werden wir so bald wie möglich nachholen. Jetzt fahren wir unverzüglich zur Feste. Uns steht doch eine Limousine zur Verfügung?»
«Selbstverständlich», murmelt Helena und deutet Richtung Flughafenausgang.
«Gut. Elias, du fährst mit uns.» Er nickt mir zu, und er und seine Begleiter folgen Helena, ohne sich noch einmal zu mir umzuwenden. Josias schließt sich ihnen an.
Was kann es sein, das ihre Pläne schon zu diesem Zeitpunkt ändert? Warum hat mir Josias nichts gesagt? «Verzeihung», sage ich, während ich ihnen nacheile. «Ich benötige keinen Platz in eurer Limousine. Ich kann euch aber gerne hinterherfahren, denn ich habe meinen eigenen Wagen dabei. Den würde ich ungern hier stehen lassen.»
Vittorio stoppt, dreht sich zu mir um und zieht eine Augenbraue hoch. «Es wird sich doch sicher jemand finden, der dein Auto fahren kann, oder?»
«Natürlich», sagt Josias und signalisiert mir mit seinem Blick, nicht zu widersprechen. «Gib uns deine Schlüssel, Elias.»
Gehorsam trenne ich meinen Wagenschlüssel von meinem Schlüsselbund. Josias nimmt meinen Autoschlüssel in Empfang und winkt einen der Leibwächter herbei, an den er ihn weitergibt. Dieser Mann fährt gleich meinen Wagen! Ich hoffe, er behandelt ihn gut!
Helena überreicht Vittorios Begleitern die Schlüssel der weißen Rolls-Royce-Phantom-Limousine, mit der Josias angereist ist. Felicity setzt sich ans Steuer, Jordan und Esther halten die hinteren Türen auf. Vittorio steigt ein, und Josias will ihm gerade folgen, doch da trifft ihn Vittorios eisiges Lächeln. «Wir sehen uns später, Josias», sagt Vittorio. Esther schiebt mich am verblüfften Josias vorbei auf die Rückbank, setzt sich daneben und schließt die Tür.
«So,
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