Schattenblume
hast du nicht genau hingeguckt», warnte Nell.
«Zwei Sachen musst du über diese Stadt wissen, Sara: Die 305
Rays glauben, ihre Scheiße stinkt nicht, und die Kendalls sind das letzte asoziale Gesindel.» Sie zeigte auf ihren
Vorgarten. «Ich will den Mund nicht zu voll nehmen, mit
dem ganzen Trödel, den Possum vors Haus stellt, aber we‐
nigstens gehen meine Kinder in sauberen Klamotten in die
Schule.»
«Wer sind die Kendalls?»
«Die Leute vom Obststand draußen vor der Stadt», sagte
sie. «Fieses Pack, jeder Einzelne von ihnen.» Sie setzte nach:
«Versteh mich nicht falsch, ich hab nichts gegen arme
Leute – ich und Possum bestimmt nicht. Aber arm sein
heißt noch lange nicht, dass du deine Kinder mit schmut‐
zigen Gesichtern und schwarzen Fingernägeln losgehen
lässt. Wenn die in den Laden kommen, muss man sich die
Nase zuhalten, so ungewaschen sind sie. » Nell schwieg und
schüttelte fassungslos den Kopf. «Vor ein paar Jahren ist einer von ihnen mit Läusen in die Schule gekommen. Es
hat die ganze neunte Klasse erwischt.»
«Sagt denn keiner beim Jugendamt Bescheid?»
Nell schnaubte. «Hoss versucht seit Jahren, die ganze
Familie aus der Stadt zu werfen. Der Alte war ein Schwein.
Hat seine Frau geschlagen, die Kinder geschlagen, die
Hunde geschlagen. Das einzig Gute, das er je zustande gebracht hat, war, dass er beim Mähen hinter der Sämerei tot
umgefallen ist.» Sie schüttelte den Kopf. «Hat vorher seiner Frau noch einen Braten in die Röhre geschoben, und
der Kleine ist der Schlimmste von allen. Gott sei Dank ist er nicht in Jareds Klasse. Jeden zweiten Tag fliegt er von der Schule, weil er sich prügelt, stiehlt oder sonst was. Vor
einer Woche hat er ein Mädchen geschlagen. Das Balg ist
genau wie sein Vater.»
Sara sagte: «Klingt grauenhaft», doch trotz allem tat ihr 306
das Kind Leid. Sie fragte sich oft, ob aus solchen Kindern noch etwas werden konnte, wenn sie zu besseren Eltern
kamen. Sie glaubte nicht an die Theorie von der schlech‐
ten Veranlagung, auch wenn wahrscheinlich jeder hier
mit Nell der Meinung war, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt.
Nell wechselte das Thema. «Ihr seid gestern Abend
ziemlich spät heimgekommen.»
«Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt.»
«Ach was. Ich war wegen Possum sowieso wach», sagte
sie. «Der Dummkopf hat sich das Kinn an der Ladentheke
angehauen. Frag mich nicht wie, jedenfalls hatte er die
ganze Nacht Zahnschmerzen. Er hat sich rumgewälzt, dass
ich ihn am liebsten erwürgt hätte.»
Auf der Straße fuhr ein Auto vorbei. Drinnen saßen
eine Frau und ein kleiner Junge. Sie hatte einen Zettel
in der Hand, als versuchte sie, eine Wegbeschreibung zu
lesen.
Sara sagte: «Jeffrey hatte ein bisschen zu viel getrunken.»
Nell war sichtlich erstaunt. «Ich hab ihn noch nie trin‐
ken sehen.»
«Ich glaube nicht, dass er es öfter tut.»
Nell sah sie forschend an. «War es wegen Julia?»
«Wer ist Julia?»
Nell sah hinaus auf die Straße, der Wagen, der eben vorbeigefahren war, kam jetzt zurück und stellte sich in die Auffahrt.
«Wer ist Julia?», wiederholte Sara. «Nell?»
Nell stand auf. «Darüber musst du mit Jeffrey reden.»
«Worüber?»
Nell winkte die Frau herbei, die aus dem Wagen stieg.
«Sie haben es gefunden.»
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Die Frau lächelte, als ihr Sohn zu den Hunden rannte
und sie in die Arme schloss. «Sie sehen genau aus wie auf den Fotos.»
«Der hier ist Henry», sagte Nell, «und das ist Lucinda.
Aber ehrlich gesagt hört sie nur auf Lucy.» Sie drückte
dem jungen die Leinen in die Hand, der sie glücklich ent-gegennahm.
Die Frau wollte protestieren, doch Nell holte ein Geld‐
bündel heraus. «Hier, das sollte für den Tierarzt reichen.
Mein Mann und ich haben es nicht geschafft, sie kastrie‐
ren zu lassen.»
«Vielen Dank», sagte die Frau, der das Geld offensichtlich
bei ihrer Entscheidung half. «Was fressen sie am liebsten?»
«Alles», sagte Nell. «Sie lieben Futter, und sie lieben
Kinder. »
«Sie sind toll!», rief der Junge mit dem Enthusiasmus,
mit dem Kinder ihre Eltern überzeugen wollen, dass sie
einmal Astronaut oder Präsident werden, solange sie nur
jetzt diesen einen Wunsch erfüllt bekommen.
«So.» Nell blickte Sara an und dann wieder die Frau.
«Ich muss los. Kisten packen. Der Möbelwagen kommt um
zwei.»
Die Frau lächelte. «Wie traurig für Sie, dass Sie die
Hunde nicht mit in die Stadt nehmen können.»
«Der Vermieter
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