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Schattenblume

Schattenblume

Titel: Schattenblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
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setzte sich und ließ sich von Nell in die Arme nehmen. Er war ihr peinlich, doch gleichzeitig war sie dankbar,
    und zwischen den Schluchzern brachte sie in unzusam‐
    menhängenden Fetzen all das heraus, was sie Jeffrey hatte
    sagen wollen.
    «Die armen Kinder.»
    «Ich weiß.»
    «Sie waren so verdreckt, so hungrig.»
    Seufzend schüttelte Nell den Kopf.
    «So was darf es doch gar nicht geben.»
    Nell strich ihr tröstend über das Haar. «Schsch ...»
    «Was ist passiert?», flehte sie. «Bitte, sag mir einfach, was damals passiert ist.»

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    «Komm», Nell reichte ihr ein Tuch aus einer Kleenex‐
    schachtel. «Putz dir erst mal die Nase.»
    Sara schnauzte sich die Nase und kam sich albern vor.
    Sie setzte sich auf, nahm sich noch ein Tuch und wischte sich über die Augen. «O Gott, es tut mir so Leid.»
    «Ein Wunder, dass das nicht schon viel früher passiert
    ist», sagte Nell und nahm sich auch ein Tuch.
    «Die Kinder ...», murmelte Sara. «Diese armen Kin‐
    der.»
    «Ich weiß. Mir tut es jedes Mal in der Seele weh, wenn ich sie sehe.»
    «Warum kann man denn gar nichts tun?»
    «Frag mich nicht», sagte sie. «Ich würd noch eine An‐
    zeige in die Zeitung setzen, wenn ich das Gefühl hätte,
    dass sie jemand nimmt.»
    Sara versuchte zu lachen, aber sie konnte nicht. «Was ist mit dem Jugendamt?»
    «Weißt du, was der beste Witz ist?»
    Sara wartete.
    «Lane Kendall hat früher selbst beim Jugendamt gear‐
    beitet.»
    «Nein», sagte Sara. Sie konnte es nicht glauben.
    «Doch», beharrte Nell. «Vor ungefähr fünfzehn Jahren
    war sie Sachbearbeiterin beim Jugendamt. Bis sie auf dem
    Weg zu einem Hausbesuch einen Autounfall hatte. Sie hat
    das County und den Staat verklagt und was weiß ich wen
    noch. Egal, was für einen Schaden sie davongetragen hat,
    nach der außergerichtlichen Einigung ist sie zumindest
    nicht arm.»
    «Und wofür gibt sie das Geld aus?»
    «Jedenfalls nicht für die Kinder», antwortete Nell grim‐
    mig. «Das Problem ist, dass sie weiß, wie der Hase läuft.

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    Sie schafft es jedes Mal, dass ihr die Kinder doch nicht weggenommen werden. Beim Jugendamt haben sie Angst
    vor ihr. Wenn Hoss nicht ab und zu nach dem Rechten
    schauen würde, würde sie die zwei Jungs wahrscheinlich in
    den Schrank sperren und den Schlüssel wegwerfen.»
    «Was hat der Kleine für eine Krankheit?»
    «Irgend so eine Blutkrankheit», sagte Nell. «Er kriegt
    ständig Transfusionen.»
    «Ein Bluter?» Sara nahm an, Nell meinte Infusionen.
    Selbst in einer so kleinen Stadt wie Sylacauga müssten die Ärzte Bescheid wissen.
    «Nein, was anderes, ein Bluter ist er nicht», widersprach Nell. «Aber ich bin sicher, dass der Staat für die Rechnungen aufkommt.»
    Sara ließ sich in die Couch sinken. Sie war schreck‐
    lich erschöpft. Die zwei Frauen saßen schweigend da, bis
    es plötzlich aus Sara herausbrach: «Ich bin vergewaltigt
    worden.»
    Zum ersten Mal hatte Nell keine Antwort parat.
    «Ich habe es noch nie laut gesagt», sagte Sara. «Ich
    meine, dieses Wort. Ich sage immer, dass ich überfallen
    wurde oder angegriffen ...» Sie presste die Lippen zusam‐
    men. «Ich bin vergewaltigt worden.»
    Nell ließ ihr Zeit, sich zu sammeln.
    «Es ist damals passiert, als ich in Atlanta arbeitete»,
    sagte Sara. «Jeffrey weiß nichts davon.» Sie zupfte einen Faden aus dem Sofakissen.
    Nell wartete einen Moment, dann sagte sie: «Da haben
    wir wohl beide unsere Geheimnisse vor ihm.»
    «Ich habe noch nie so für einen Mann empfunden»,
    sagte Sara. «Für niemanden.» Sie versuchte, die richtigen
    Worte zu finden. «Ich habe das Gefühl, es ist nichts mehr 357
    unter meiner Kontrolle. Egal, was mein Kopf mir rät, tief in mir ist etwas, das sagt: ‹Hör nicht auf die Leute. Du kannst ohne ihn nicht leben.›»
    Nell sagte: «Diese Wirkung hat er auf Frauen.»
    «Ich will nur ...» Sie drehte die Handflächen nach oben.
    «Ich weiß nicht, was ich will.» Dann zupfte sie wieder an dem Faden. «Ich kann ihm noch nicht mal ins Gesicht sagen, dass ich ihn liebe, aber jedes Mal, wenn ich ihn sehe, wenn ich nur an ihn denke ...»
    Nell gab ihr noch ein Tuch. «Ich hab es nie geglaubt»,
    sagte sie. «Das Gerücht über ihn und Julia.»
    «Welches Gerücht?»
    «Es hieß, dass Jeffrey und Robert sie im Wald vergewal‐
    tigt hätten.»
    Sara biss sich auf die Unterlippe. Nell sagte die Worte
    ganz nüchtern, doch sie taten ihre Wirkung. Das kleine
    Wort «vergewaltigt» war so unerhört profan.
    «Sie

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