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Schattenblume

Schattenblume

Titel: Schattenblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
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erst ein paar Mal dort
    gewesen, doch nach dem, was sie gesehen hatte, schien er
    sehr akkurat zu sein.
    «Es ist schön», versicherte sie.
    «Na ja», sagte er, wenig überzeugt. Er hatte seine Zahn‐
    bürste gefunden. «Bin gleich wieder da.»
    Sara sah ihm nach, als er hinausging und die Tür hinter sich zuzog. Hastig zog sie sich aus und schlüpfte in den Pyjama, ohne den Blick von der Tür zu nehmen, für den Fall, dass seine Mutter hereinkäme. Nell hatte sich nicht gerade
    nett über May Tolliver geäußert, und Sara wollte der Frau nicht mit heruntergelassenen Hosen begegnen.
    Sie kniete sich vor ihren Koffer. Die Haarbürste fand sie eingewickelt in ihren Shorts, und sie schaffte es, ihre
    Haarspange herauszunehmen, ohne sich allzu viele ihrer
    widerspenstigen Locken auszureißen. Während sie sich
    das Haar bürstete, sah sie sich im Zimmer um, betrachtete
    die Poster und die Gegenstände, die Jeffrey in seiner Kind‐
    heit gesammelt hatte. Auf der Fensterbank lagen verschie‐
    dene ausgeblichene Knochen, die einmal zu einem kleinen
    Tier gehört hatten. Auf dem Nachttisch, der selbst gebaut aussah, standen eine kleine Lampe und eine grüne Schale
    voller Kleingeld. Leichtathletik‐Urkunden hingen an einer
    Pinnwand und ein alter Milchkarton barg sauber beschrif‐

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    tete Kassetten. An der gegenüberliegenden Wand stand
    ein behelfsmäßiges Regal aus Brettern und Backsteinen,
    voll gestopft mit Büchern. Sara erwartete Comics und ein
    paar Detektivromane, doch stattdessen fand sie dicke Bände
    mit Titeln wie Strategische Gefechte im amerikanischen
    Bürgerkrieg und Die sozialpolitischen Auswirkungen des Wiederaufbaus im ländlichen Süden.
    Sie legte die Bürste weg und nahm das Buch mit dem
    am wenigsten einschüchternden Titel in die Hand. Auf
    der ersten Seite fand sie Jeffreys Namen, dazu das Jahr und
    die Kursbezeichnung. Beim Durchblättern sah sie seine
    zahlreichen Randbemerkungen und Unterstreichungen.
    Betreten stellte Sara fest, dass ihr Jeffreys Handschrift
    vollkommen fremd war. Sie hatte ihn nie eine Nachricht
    oder auch nur eine Einkaufsliste schreiben sehen. Im
    Gegensatz zu ihren eigenen krakeligen Druckbuchstaben
    hatte er eine schöne, fließende Schreibschrift, wie sie
    heute in den Schule gar nicht mehr gelehrt wurde. Seine
    Ws waren tadellos gerundet und fügten sich sauber an die
    anschließenden Vokale an. Die Schleifen seiner Gs hatten
    alle exakt die gleiche Form, als hätte er sie mit der Scha-blone gemalt. Sogar ohne Grundlinie schrieb er vollkom‐
    men gerade, nicht schräg über das Blatt wie die meisten
    Menschen.
    Sie fuhr mit dem Finger seine Anmerkungen nach und
    spürte die Vertiefungen, die der Bleistift auf der Seite hinterlassen hatte. Die Worte waren wie geprägt, als hätte er
    zu fest aufgedrückt.
    «Was machst du da?»
    Sara fühlte sich ertappt, als hätte sie in seinem Tagebuch
    gestöbert, nicht in einem alten Lehrbuch. «Der Bürger‐
    krieg?»

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    Er kniete sich neben sie und nahm ihr das Buch ab. «Ich hatte Geschichte im Hauptfach.»
    «Du steckst voller Überraschungen, Slick.»
    Er zuckte zusammen, dann stellte er das Buch wieder zu
    den anderen ins Regal und brachte die Buchrücken wieder
    auf eine Linie. Ein Streifen im Staub zeigte die exakte
    Stelle an. Jetzt zog er einen dünnen, in Leder gebundenen
    Band heraus, auf den in goldenen Buchstaben schlicht das
    Wort Briefe geprägt war.
    «Die hier haben die Soldaten an ihre Liebsten zu Hause
    geschrieben», sagte Jeffrey und blätterte durch das zerle‐
    sene Buch, bis er die Seite fand, die er suchte. Er räusperte
    sich und las: «Mein Liebling. Die Nacht bricht herein und ich liege wach und denke darüber nach, was für ein Mensch
    ich geworden bin. Ich sehe den samtschwarzen Himmel an
    und frage mich, ob du dieselben Sterne siehst, und ich bete,
    dass du das Bild von dem Mann bewahrst, der ich für dich war. Ich bete, dass du mich immer noch siehst.»
    Jeffrey starrte auf die Worte, ein Lächeln auf den Lip‐
    pen, als teile er ein Geheimnis mit dem Buch. Er las genauso wie er Liebe machte: bewusst, leidenschaftlich, auf‐
    merksam. Sara wollte, dass er weiterlas, dass er sie mit dem tiefen Klang seiner Stimme in den Schlaf lullte, doch er brach den Bann mit einem schweren Seufzer.
    «Na ja.» Er schob das Buch zurück an seinen Platz. «Ich hätte die Bücher damals verkaufen sollen, als der Kurs zu Ende war, aber ich habe es nicht übers Herz gebracht.»
    Sie hätte ihn am

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