Schattenblume
erst ein paar Mal dort
gewesen, doch nach dem, was sie gesehen hatte, schien er
sehr akkurat zu sein.
«Es ist schön», versicherte sie.
«Na ja», sagte er, wenig überzeugt. Er hatte seine Zahn‐
bürste gefunden. «Bin gleich wieder da.»
Sara sah ihm nach, als er hinausging und die Tür hinter sich zuzog. Hastig zog sie sich aus und schlüpfte in den Pyjama, ohne den Blick von der Tür zu nehmen, für den Fall, dass seine Mutter hereinkäme. Nell hatte sich nicht gerade
nett über May Tolliver geäußert, und Sara wollte der Frau nicht mit heruntergelassenen Hosen begegnen.
Sie kniete sich vor ihren Koffer. Die Haarbürste fand sie eingewickelt in ihren Shorts, und sie schaffte es, ihre
Haarspange herauszunehmen, ohne sich allzu viele ihrer
widerspenstigen Locken auszureißen. Während sie sich
das Haar bürstete, sah sie sich im Zimmer um, betrachtete
die Poster und die Gegenstände, die Jeffrey in seiner Kind‐
heit gesammelt hatte. Auf der Fensterbank lagen verschie‐
dene ausgeblichene Knochen, die einmal zu einem kleinen
Tier gehört hatten. Auf dem Nachttisch, der selbst gebaut aussah, standen eine kleine Lampe und eine grüne Schale
voller Kleingeld. Leichtathletik‐Urkunden hingen an einer
Pinnwand und ein alter Milchkarton barg sauber beschrif‐
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tete Kassetten. An der gegenüberliegenden Wand stand
ein behelfsmäßiges Regal aus Brettern und Backsteinen,
voll gestopft mit Büchern. Sara erwartete Comics und ein
paar Detektivromane, doch stattdessen fand sie dicke Bände
mit Titeln wie Strategische Gefechte im amerikanischen
Bürgerkrieg und Die sozialpolitischen Auswirkungen des Wiederaufbaus im ländlichen Süden.
Sie legte die Bürste weg und nahm das Buch mit dem
am wenigsten einschüchternden Titel in die Hand. Auf
der ersten Seite fand sie Jeffreys Namen, dazu das Jahr und
die Kursbezeichnung. Beim Durchblättern sah sie seine
zahlreichen Randbemerkungen und Unterstreichungen.
Betreten stellte Sara fest, dass ihr Jeffreys Handschrift
vollkommen fremd war. Sie hatte ihn nie eine Nachricht
oder auch nur eine Einkaufsliste schreiben sehen. Im
Gegensatz zu ihren eigenen krakeligen Druckbuchstaben
hatte er eine schöne, fließende Schreibschrift, wie sie
heute in den Schule gar nicht mehr gelehrt wurde. Seine
Ws waren tadellos gerundet und fügten sich sauber an die
anschließenden Vokale an. Die Schleifen seiner Gs hatten
alle exakt die gleiche Form, als hätte er sie mit der Scha-blone gemalt. Sogar ohne Grundlinie schrieb er vollkom‐
men gerade, nicht schräg über das Blatt wie die meisten
Menschen.
Sie fuhr mit dem Finger seine Anmerkungen nach und
spürte die Vertiefungen, die der Bleistift auf der Seite hinterlassen hatte. Die Worte waren wie geprägt, als hätte er
zu fest aufgedrückt.
«Was machst du da?»
Sara fühlte sich ertappt, als hätte sie in seinem Tagebuch
gestöbert, nicht in einem alten Lehrbuch. «Der Bürger‐
krieg?»
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Er kniete sich neben sie und nahm ihr das Buch ab. «Ich hatte Geschichte im Hauptfach.»
«Du steckst voller Überraschungen, Slick.»
Er zuckte zusammen, dann stellte er das Buch wieder zu
den anderen ins Regal und brachte die Buchrücken wieder
auf eine Linie. Ein Streifen im Staub zeigte die exakte
Stelle an. Jetzt zog er einen dünnen, in Leder gebundenen
Band heraus, auf den in goldenen Buchstaben schlicht das
Wort Briefe geprägt war.
«Die hier haben die Soldaten an ihre Liebsten zu Hause
geschrieben», sagte Jeffrey und blätterte durch das zerle‐
sene Buch, bis er die Seite fand, die er suchte. Er räusperte
sich und las: «Mein Liebling. Die Nacht bricht herein und ich liege wach und denke darüber nach, was für ein Mensch
ich geworden bin. Ich sehe den samtschwarzen Himmel an
und frage mich, ob du dieselben Sterne siehst, und ich bete,
dass du das Bild von dem Mann bewahrst, der ich für dich war. Ich bete, dass du mich immer noch siehst.»
Jeffrey starrte auf die Worte, ein Lächeln auf den Lip‐
pen, als teile er ein Geheimnis mit dem Buch. Er las genauso wie er Liebe machte: bewusst, leidenschaftlich, auf‐
merksam. Sara wollte, dass er weiterlas, dass er sie mit dem tiefen Klang seiner Stimme in den Schlaf lullte, doch er brach den Bann mit einem schweren Seufzer.
«Na ja.» Er schob das Buch zurück an seinen Platz. «Ich hätte die Bücher damals verkaufen sollen, als der Kurs zu Ende war, aber ich habe es nicht übers Herz gebracht.»
Sie hätte ihn am
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