Schattenblume
Es war wie früher, wenn er für seine Mutter Jügen musste.
Hoss nickte, und Jeffrey wusste, er verstand, dass Jessies
Schlaf nicht nur von der Erschöpfung kam. «Ich habe ihre Mutter angerufen, sie holt sie ab. Faith ist die Einzige, die das Mädchen beruhigen kann.»
Dann wandte sich Hoss an seinen zweiten Hilfssheriff,
der eine Kamera um den Hals trug und eine große rote
Werkzeugkiste dabeihatte. Er sah aus wie zwölf und stellte
wahrscheinlich die hiesige Spurensicherung dar. Jeffrey
160
zuckte zusammen, als Hoss dem Deputy zurief: «Reggie,
du wartest hier auf Jessies Mutter. Wir sind gleich wieder da.»
Hoss trat ins Haus und sah sich im Flur um. An den
Wänden hingen Fotos, die meisten aus den Zeiten, als Jeffrey, Possum und Robert noch zur Schule gingen. Auf
manchen waren auch Nell und Jessie zu sehen, doch zum
großen Teil waren es nur die drei Jungs. Ein Gruppenfoto zeigte Jeffreys und Roberts Footballmannschaft mit einem
großen Banner im Hintergrund, auf dem «State Champi‐
ons» stand. Gestern am Pool hatte Possum Sara von ihrem
letzten erfolgreichen Spiel gegen die Comer High erzählt.
Wie er die Geschichte verklärte, war Jeffrey peinlich und machte ihn traurig. Possum war immer ihr größter Fan gewesen.
Hoss fragte: «Was zum Teufel ist heute Nacht hier pas‐
siert?»
«Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Zimmer», sagte Jef‐
frey, ohne die Frage zu beantworten. «Sara und ich waren draußen auf der Straße, als wir Jessie schreien hörten.» Er biss sich auf die Innenseiten der Wangen, als sie den Flur hinuntergingen. Was er verschwieg, lag ihm schwer im
Magen.
Wie gewöhnlich konnte Hoss seine Gedanken lesen.
«Ist was nicht in Ordnung, Junge?»
«Nein, Sir», antwortete Jeffrey. «Es war einfach nur
eine lange Nacht.»
Hoss schlug Jeffrey so kräftig auf den Rücken, dass er
husten musste. Das war seine Art, Zuneigung zu zeigen.
«Du bist ein harter Knochen. Du schaffst das schon.» Vor der Schlafzimmertür blieb er stehen. «Meine Güte», murmelte er. «Hier sieht's ja aus.»
161
«Ja», stimmte Jeffrey zu. Er versuchte, den Tatort mit
den Augen von Hoss zu sehen. Der Deckenventilator
surrte immer noch, doch man sah, dass er abgestellt gewe‐
sen sein musste, als der Mann erschossen wurde. Die Ro‐
torblätter zeichneten sich in den Blutspritzern an der Decke ab. Der Schalter war blutverschmiert, wahrscheinlich
hatte Robert ihn angestellt. Das war nur logisch. Er wollte das Licht anmachen, um nachzusehen, wie schwer er ver-wundet war. Es war auch logisch, dass zwischen den letz‐
ten beiden Schüssen ein paar Sekunden vergingen. Robert
war den Umgang mit Waffen gewöhnt, seit er acht Jahre
alt war. Er hätte nie ins Dunkle gefeuert. Wahrscheinlich hatte er seine Augen erst an die Dunkelheit gewöhnt, um
zu sehen, wo Jessie war. Wie Jeffrey sie kannte, hatte sie wahrscheinlich hilflos in einer Ecke gestanden. Es sah Robert ähnlich, dass er sich Zeit genommen hatte.
Hoss sah aus dem Fenster. «Das Fliegengitter wurde
eingedrückt», stellte er fest. Jeffrey wusste immer noch
nicht, ob von innen oder von außen, aber keine Macht der
Welt hätte ihn nochmal in das Zimmer gebracht. Er würde
sich draußen umsehen, wenn Hoss weg war.
Hoss fragte: «Was hat Robert gesagt?»
Jeffrey suchte nach einer Antwort, doch Hoss winkte ab.
«Ich frag ihn dann selbst.» Jeffrey war die Überra‐
schung wohl anzusehen, denn Hoss erklärte: «Und du
kannst deine Aussage morgen machen, wenn du dein
Mädchen aufs Revier bringst.»
Nach dem Blick, den Sara ihm zugeworfen hatte, als sie
ging, war Jeffrey nicht sicher, ob er morgen noch ein Mäd‐
chen hatte, aber das behielt er für sich. Stattdessen beobachtete er, wie Hoss durch das Zimmer ging. Wenn er
daran dachte, was er zurückhielt, zog sich sein Magen
162
zusammen. Das war der eigentliche Grund, warum Jeffrey
nie eine Verbrecherlaufbahn angestrebt hatte. Anders als
Jimmy Tolliver konnte Jeffrey mit einem schlechten Ge‐
wissen nachts nicht schlafen. Er hasste Lügen – vielleicht, weil seine ganze Kindheit voll davon gewesen war. Seine
Mutter bestritt, dass sein Vater der Verbrechen schuldig
war, wegen denen er saß; sein Vater bestritt, dass seine Mutter ein Alkoholproblem hatte. Und zur gleichen Zeit
band der junge Jeffrey jedem, der es hören wollte, seine eigenen faustdicken Lügen auf. Er war von Sylacauga fort-gegangen, um ein neuer Mensch zu werden. Doch kaum
hatte er wieder
Weitere Kostenlose Bücher