Schattenblume
einen Fuß auf heimatlichen Boden gesetzt,
schlüpfte er in alte Gewohnheiten wie in ein Paar ausge‐
tretener Galoschen.
«Junge?», fragte Hoss. Er stand immer noch am Fenster.
Jeffrey sah, dass Hoss in einem von Jessies blutigen Fuß‐
abdrücken stand. Ein paar ihrer kleinen weißen Pillen wa‐
ren unter seinem Stiefelabsatz zerstampft worden.
«Sir?», antwortete Jeffrey und dachte, dass Hoss wahr‐
scheinlich genauso geschockt wie er selbst war. Jeder zeigte
es nur auf eine andere Art.
«Ich hab gesagt, für mich ist die Sache sonnenklar»,
sagte Hoss. Er stupste den Toten mit der Stiefelspitze an, und Jeffrey tat die Respektlosigkeit weh, mit der Hoss den
Tod dieses Mannes behandelte. Doch so war es bei Hoss
immer gewesen. Es gab die Guten, und es gab die Bösen,
und um die einen zu schützen, tat man mit den anderen
eben das, was getan werden musste. Hoss war mit Robert
und Jeffrey zwar streng gewesen, doch er billigte nicht,
dass irgendjemand schlecht über sie redete.
Hoss hockte sich hin und betrachtete die Leiche. Das
Gesicht war zum großen Teil von schulterlangem, fetti‐
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gem blondem Haar bedeckt. Trotzdem fragte er: «Schon
mal gesehen?»
«Nein», sagte Jeffrey und ging in die Knie, um besser
sehen zu können. Er stand immer noch vor der Tür, doch
aus der Hocke sah er die Blutspritzer, die sich fächerförmig
um den Toten ausbreiteten. Auch an der Stelle, wo Jeffrey
stand, gab es Spritzer. Robert musste gerade versucht ha‐
ben, den Schalter zu finden, als er getroffen wurde.
«Luke Swan.» Hoss stand auf und steckte die Daumen
hinter den Gürtel.
Jeffrey kannte ihn dem Namen nach. «Der war bei uns
auf der Schule.»
«Er hat die Schule abgebrochen, bevor ihr euren Ab‐
schluss gemacht habt», sagte Hoss. «Erinnerst du dich an
ihn?»
Jeffrey nickte, doch es stimmte nicht. In seiner High‐
school‐Zeit hatte sich fast alles um Football gedreht. Luke Swan war alles andere als ein sportlicher Typ gewesen. Er sah aus, als brächte er nicht mal fünfzig Kilo auf die Waage.
«Seitdem hat er nur Ärger gemacht», sagte Hoss mit
einem Anflug von Bedauern. «Drogen, Alkohol. Hat mehr
als einen Rausch auf der Wache ausgeschlafen.»
«Hat Robert ihn schon mal verhaftet?»
Hoss zuckte die Achseln. «Teufel, Slick, wir haben nur
acht Deputys, die hier Schicht schieben. Jeder von uns hat den Jungen das eine oder andere Mal einkassiert.»
«Hat er schon mal so was angestellt?», fragte Jeffrey.
Als Hoss den Kopf schüttelte, erklärte er: «Bewaffneter
Raubüberfall ist ein großer Schritt, wenn er bis jetzt nur ein bisschen Ärger gemacht hat.»
Hoss verschränkte die Arme vor der Brust. «Was willst
du damit sagen? Sollte ich mir Sorgen machen?»
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Jeffrey sah die Leiche an. Auch wenn er das Gesicht des Mannes nicht richtig sehen konnte, ließen ihn die dünnen
blauen Lippen und der schmale Körperbau jünger wirken,
als er offensichtlich war. «Nein, Sir.»
Ohne darauf zu achten, wohin er trat, kam Hoss auf ihn
zu. «Deine Lady vorhin hat mir den Eindruck gemacht, als hätte sie was zu sagen.»
«Sie ist die Gerichtsmedizinerin bei uns in der Stadt.»
Hoss pfiff beeindruckt durch die Zähne, doch seine Be‐
wunderung galt nicht Sara. «Ihr könnt euch einen Ge‐
richtsmediziner leisten?»
«Es ist eine halbe Stelle», erklärte Jeffrey.
«Ist sie teuer?»
Jeffrey schüttelte den Kopf, obwohl er keine Ahnung
hatte, was Sara verdiente. Ihrem Haus und ihrem Wagen
nach zu urteilen sehr viel mehr als er. Natürlich war es immer leichter, Geld zu verdienen, wenn bereits welches im
Hintergrund war. Diese Wahrheit hatte Jeffrey sein Leben
lang bestätigt gefunden.
Hoss nickte mit dem Kopf in Richtung der Leiche.
«Glaubst du, sie würde den für uns übernehmen?»
Wieder bekam Jeffrey kaum Luft. «Ich frag sie.»
«Gut.» Hoss warf einen letzten Blick in das Zimmer.
«Ich will, dass die Sache so schnell wie möglich aufgeklärt wird und Robert wieder auf der Straße ist.»
Dann, als wollte er jede weitere Diskussion beenden,
drehte er sich um und machte das Licht aus.
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KAPITEL NEUN
ara wachte schweißgebadet auf. Als sie sich zu schnell
Saufsetzte,
brummte ihr der Kopf. Verwirrt sah sie sich
um und versuchte sich zu erinnern, wo sie war. Die Au‐
burn‐Devotionalien hatten eine beruhigende Wirkung.
Selbst die orangeblaue Decke, die Nell ihr gestern Nacht
gegeben hatte, war irgendwie tröstlich. Sara machte
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