Schattenblume
pfiff durch die Zähne. «Privilegien. Schwieriges
Wort.»
«Schön, dass es dich beeindruckt.»
«Hat dir das deine Schwester beigebracht?»
«Red nicht von meiner Schwester.»
«Wie geht's Paula denn so?»
«Ich hab gesagt, du sollst den Mund halten, du Arsch‐
loch», warnte Reggie. «Warum fragst du nicht nach mei‐
nen Cousinen? Wie es ihnen so geht ohne ihren Vater?
Wie unsere Familienfeste so sind, seit Onkel Dave nicht
mehr bei uns ist?»
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Jeffrey fühlte sich genauso mies, wie Reggie beabsich‐
tigt hatte. Trotzdem widersprach er: «Ich bin nicht für mei‐
nen Vater verantwortlich.»
«Ach ja», sagte Reggie und nahm eine scharfe Kurve auf
den Parkplatz der Wache. «Das ist mächtig bequem für
dich. Soll ich das meiner Cousine Jo sagen, wenn sie im Herbst den Highschool‐Abschluss macht und ihr Daddy
nicht da ist, um ihr zu gratulieren? Das tröstet sie bestimmt.»
Jeffrey schnappte sich die nassen Socken von der Fuß‐
matte und stieg aus dem Wagen, bevor Reggie den Motor
abgestellt hatte. Er stürmte in das Gebäude, ohne auf die Sekretärin oder den Hilfssheriff zu achten, der bei ihr am Schreibtisch stand, und rannte nach hinten zu Hoss' Büro.
Ohne anzuklopfen, riss er die Tür auf.
Hoss blickte von seiner Zeitung auf, als Jeffrey die Tür hinter sich zuzog. «Was gibt's denn, Junge?»
Jeffrey wollte sich setzen, doch etwas hielt ihn davon ab.
Stattdessen lehnte er sich erschöpft an die Wand. Seine
Ängste holten ihn langsam ein. Er sah sich im Büro des
Sheriffs um. Auch hier hatte sich in den letzten zehn Jahren nicht das Geringste verändert. Die Anglertrophäen
und die Fotos von seinem Boot standen nach wie vor dort,
und die gefaltete amerikanische Flagge, die auf dem Sarg
seines Bruders gelegen hatte, als sie seine Leiche aus Viet-nam zurückbrachten, hatte nach wie vor ihren Ehrenplatz
im Regal neben dem Fenster. Nach dem Tod seines Bruders
wollte Hoss unbedingt auch zur Armee, doch er war wegen
seiner Plattfüße ausgemustert worden. Hoss witzelte, das
Pech der Armee sei Sylacaugas Glück gewesen, doch Jef‐
frey wusste, dass er es nicht so leicht genommen hatte.
Hoss sagte: «Jeffrey?»
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«Wir haben Knochen gefunden.»
«Knochen?» Hoss faltete die Zeitung ordentlich zusam‐
men.
«In der alten Höhle, wo die Jungs und ich nach der
Schule immer waren.»
«Beim Steinbruch?», fragte Hoss vorsichtig. «Wahr‐
scheinlich ist es ein Bär oder so was.»
«Sara ist Ärztin, Hoss. Sie weiß, wie menschliche Kno‐
chen aussehen. Verdammt, das verfluchte Skelett lag auf
dem Felsvorsprung, als würde die Lady auf der Couch ein
Mittagsschläfchen machen.»
«Eine Frau?», fragte Hoss, und mit einem Mal wurde
die Luft im Raum stickig.
An der Tür klopfte es.
«Was ist?», rief Hoss.
Reggie machte die Tür auf. «Ich wollte nur –»
«Lass uns eine Minute allein», bellte Hoss, er duldete
keine Widerrede.
Jeffrey hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, doch er hatte den Blick nicht von Hoss gewandt. Der alte Mann schien in
den letzten Sekunden um hundert Jahre gealtert zu sein.
Jeffrey griff in die Hosentasche und zog die Kette her‐
aus, die er in der Höhle gefunden hatte. Er hielt sie hoch und ließ das herzförmige goldene Medaillon in der Sonne
tanzen.
«Das beweist gar nichts», sagte Hoss. «Sie ist zigmal
draußen in der Höhle gewesen. Das weiß jeder. Verdammt,
sie hat es selbst rumerzählt.»
«Sara wird nicht zulassen, dass diese Sache unter den
Teppich gekehrt wird.»
«Ich dachte, ihr wolltet heute Nachmittag abfahren?»
«Ich hatte sie davor schon überredet, noch eine Nacht
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zu bleiben», erklärte Jeffrey. «So oder so, Sara wird der Sa‐
che hier auf den Grund gehen wollen.»
«Ich fürchte, da kann ich sie nicht ranlassen.»
Jeffrey registrierte die Schärfe in seiner Stimme. «Ich
habe nichts zu verbergen», sagte er.
«Es geht nicht darum, ob jemand was zu verbergen hat
oder nicht, Slick. Es geht darum, dass man die Vergangenheit ruhen lassen sollte. Das Leben geht weiter. Das gilt für
euch beide, für Robert und für dich.»
«Egal, was Lane Kandall für ein Drachen ist, sie muss es erfahren.»
«Was erfahren?», fragte Hoss. Er stand auf und ging ans
Fenster. Genau wie in Jeffreys Büro sah man von hier aus auf den Parkplatz. «Im Moment wissen wir gar nichts.»
«Sara wird etwas finden.»
«Was finden?»
«Jemand hat ihr den Schädel eingeschlagen», sagte Jef‐
frey.
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