Schattenblume
dann hat Robert ihn erschossen.»
Sara versuchte die Schwachstelle in der Theorie zu sehen. «Möglich.»
Jeffrey war spürbar erleichtert. «Warten wir die Autopsie ab, in Ordnung? Bis dahin können wir es doch für uns behalten. Die Autopsie wird zeigen, was passiert ist.»
«Hast du gefragt, ob ich dabei sein darf?»
«Hoss will sogar, dass du die Untersuchung machst.»
«Also gut.»
«Sara …»
«Ich habe schon gepackt», sagte sie und stand auf. «So bald ich fertig bin, möchte ich los.» Um keine Zweifel aufkommen zu lassen, erklärte sie: «Ich will nach Hause.»
KAPITEL ZEHN
13.32 Uhr
D as Telefon kreischte wie Fingernägel auf einer Tafel. Saras Ohren fingen an, ihr Streiche zu spielen. Sie hatte das Gefühl, das Klingeln wurde lauter und leiser, wie eine Polizeisirene. Um die Zeit zu überbrücken, zählte sie die Sekunden dazwischen, verzählte sich, bis sie dachte, es hätte aufgehört, nur um das nächste Schrillen umso lauter wahrzunehmen. Das Telefon klingelte noch mit einer Glocke, nicht mit einer computergenerierten Melodie. Der schwarze Apparat war so alt, dass es Sara nicht gewundert hätte, wenn eine Wählscheibe dran gewesen wäre. Es hatte weder ein leuchtendes Display noch stromlinienförmige Tasten. Bei all den Handys und schnurlosen Telefonen mit ihren digitalisierten Klingelzeichen hatte Sara vergessen, wie sich ein richtiges Telefon anhörte.
Mit dem Handrücken wischte sie sich den Schweiß von der Oberlippe. Ab dem Moment, da der Strom abgestellt worden war, wälzte sich die Hitze von draußen in den schlecht belüfteten Mannschaftsraum herein. Inzwischen, über eine Stunde später, war es stickig und man bekam kaum noch Luft. Zu allem Überfluss begannen die Leichen zu riechen.
Smith hatte Brads Uniformhemd und -hosen in den Belüftungsschacht gestopft, wahrscheinlich um zu verhindern, dass die Polizei sich Einblick verschaffte. Jetzt saß Brad in weißen Boxershorts und schwarzen Socken da, doch es war ihm schon lang nicht mehr peinlich. Aus irgendeinem Grund hatte Smith Vertrauen zu Brad, und er war der Einzige, dem Smith irgendeine Art von Freiheit zugestand. Sara war es gelungen, Brad Jeffreys Brieftasche zuzuschieben, als er die kleinen Mädchen aufs Klo brachte. Sie hatte allerdings keine Ahnung, wo er sie versteckt hatte. Sie hoffte nur, es war ein gutes Versteck.
Der Stress hatte zwei der übrig gebliebenen Mädchen schließlich so erschöpft, dass sie beide, mit den Köpfen in Brads Schoss, eingeschlafen waren. Marla saß ein Stück von der Gruppe entfernt und starrte mit offenem Mund und leerem Blick zu Boden. Sara hatte panische Angst, dass die alte Frau hysterisch werden und Jeffreys wahre Identität verraten könnte. Es lief ihr kalt über den Rücken, als sie sich eingestand, dass sie, falls sie eine Wahl treffen musste, alles tun würde, um Jeffrey zu schützen.
Sara lehnte den Kopf gegen die Wand und riskierte einen Blick auf Smith. Er lief wieder auf und ab und murmelte dabei vor sich hin. Er hatte den Mantel ausgezogen und stellte seinen absolut durchtrainierten Körper zur Schau. Stahlharte Muskeln zeichneten sich unter dem T-Shirt ab. Auf dem rechten Bizeps war ein großer blauer Adler eintätowiert, und bei jedem zweiten Schritt versuchte Sara die Inschrift darunter zu entziffern, doch ohne Erfolg.
Wie sein Komplize trug er Armeehosen und Springerstiefel. Die kugelsichere Weste war bei der Hitze wahrscheinlich wie eine Zwangsjacke, doch er löste nicht einmaldie Schnallen. Aus jeder Pore schien er eine animalische Angriffslust auszudünsten, und doch war es der zweite Schütze, der stillere von beiden, der Sara mehr Angst einjagte. Er befolgte Befehle, führte aus, was immer man ihm auftrug, ganz egal, ob es darum ging, auf kleine Kinder zu zielen oder einem Polizisten den Kopf wegzupusten. Dieser Charaktertyp war unter jungen Männern nicht ungewöhnlich – das Militär versuchte bevorzugt diese Sorte Jungs zu rekrutieren –, doch Smith und er zusammen bildeten das explosive Gemisch. Falls Smith etwas zustieß, wäre der zweite Schütze vollkommen unberechenbar. Wenn man einem Skorpion den Kopf abhackte, war der Schwanz immer noch tödlich.
Jeffrey bewegte sich in Saras Schoß, und sie legte ihm beruhigend die Hand auf die gesunde Schulter. «Alles wird gut», flüsterte sie.
Er rieb sich die Augen wie ein müdes Kind. Er hatte den Abdruck einer Falte ihres Kleides im Gesicht, und sie hätte die Linie am liebsten weggeküsst.
«Wie
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