Schattenblume
auch sie auflegen wollte, hörte sie ein Geräusch in der Leitung – jemand atmete –, dann klickte es ein zweites Mal.
Jemand hatte ihre Unterhaltung belauscht.
Sara ging an die Tür und sah durch das Fenster auf den Korridor. Die Lichter waren schon vor Stunden ausgegangen, als Deacon White Feierabend gemacht hatte. Sie wusste, dass ein Praktikant namens Harold in dem Apartment über der Garage wohnte, doch man hatte ihr gesagt, dass er abends gerne für sich war, außer wenn eine Leiche abzuholen war.
Sie hob den Hörer ab und drückte den Knopf, auf dem «Apt.» stand.
Es klingelte sechsmal, bevor der Mann mit einem verschlafenen «Hallo?» abhob.
«Waren Sie gerade am Telefon?»
«Was?»
Sara versuchte es noch einmal. «Hier ist Sara Linton. Ich bin in der Leichenhalle.»
«Oh … richtig …», brachte er heraus. «Mr. White sagte, dass sie noch da sind.» Er schwieg, und sie glaubte zu hören, dass er gähnte. «Tut mir Leid», sagte er, und leiser: «Himmel.»
Sara zog die Telefonschnur lang und ging wieder zum Fenster. Ein Wagen wendete auf dem Parkplatz, und Scheinwerfer erhellten den Korridor. Sie beschirmte die Augen und versuchte zu erkennen, wer es war. Der Wagen stand mit aufgeblendeten Scheinwerfern auf dem Behindertenparkplatz neben ihrem BMW.
Harold klang mürrisch. «Hallo?»
«Entschuldigen Sie», sagte Sara. «Ich wollte gerade gehen und –»
«Ach so», sagte er. «Ich komme runter und mache Ihnen auf.»
«Nein, ich –», wehrte sie ab, doch er hatte bereits aufgelegt.
Sara sah wieder in den Korridor. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie auszumachen, ob jemand zur Tür kam. Es dauerte ein paar Minuten, dann tauchte eine Gestalt im Licht auf. Harold stand im Flur und beschirmte sich die Augen, genau wie Sara es getan hatte. Er hatte einen Pyjama an und gähnte, als Sara sich neben ihn stellte.
«Wer zum Teufel ist das?», fragte Harold und ging zur Eingangstür.
«Ich wollte gerade –» Sara brach ab. Der Wagen war ein Truck, und sie sah, wie Jeffrey vom Fahrersitz kletterte. Aus dem Radio plärrte Country-Musik, und sie unterdrückte einen Fluch, dann bedankte sie sich bei dem Praktikanten.
«Schon gut», sagte er und gähnte wieder, dass Sara seine Backenzähne sehen konnte. Er schob den Riegel zurück und öffnete die Tür.
Als Sara die Leichenhalle verließ, konnte sie sich die Frage nicht verkneifen: «Ist sonst noch jemand in dem Gebäude?»
Harold sah sich über die Schulter um. «Keiner, der noch atmet.» Er gähnte wieder. Einmal zu oft. Sara fragte sich, ob er wirklich geschlafen hatte, als sie anrief.
Sie wollte gerade etwas sagen, doch er winkte ihr zu, während er die Glastür abschloss und noch einmal gähnte.
Sara konnte Jeffrey aus fünf Meter Entfernung riechen, er stank wie eine ganze Brauerei. Und sie sah, dass er torkelte. Sara war schockiert. Dass Jeffrey kein Abstinenzler war, das war ihr klar, doch sie hatte ihn nie mehr als ein Glas Wein oder ab und zu ein Bier trinken sehen. Das passte auch zu dem, was sie inzwischen über seine Mutter wusste. Die Tatsache, dass er ausgerechnet heute Abend sturzbetrunken war, ließ bei Sara alle Alarmglocken schrillen.
Argwöhnisch sagte sie: «Hallo.»
Er grinste albern und legte sich den Finger an die Lippen, als im Radio Elvis Presleys «Wise Men Say» spielte.
«Jeffrey …»
Er fasste sie um die Hüfte und zog sie an sich, allerdings machte er sich beim Führen nicht besonders gut.
Sie warf einen Blick auf den Truck, der wahrscheinlich älter war als sie. Vorn gab es nur eine durchgehende Sitzbank, wie die in der Höhle. Der dürre Arm des Schaltknüppels ragte in der Mitte aus dem Fußboden.
«Bist du etwa gefahren?»
«Schsch», machte er.
«Wie viel hast du getrunken?» Sie wedelte sich mit der Hand frische Luft zu.
Er summte das Lied mit und sang die Zeile: «Falling in love … with … you …»
«Jeff.»
«Ich liebe dich, Sara.»
«Das ist nett», sagte sie und schob ihn sanft von sich. «Bringen wir dich lieber heim, ja?»
«Ich kann nicht zu Possum.»
Sie legte ihm die Hände auf die Schultern, und er lehnte sich gegen sie. «Doch, du kannst.»
«Sie haben Robert festgenommen.»
Sara schluckte, doch sie sagte nichts. «Lass uns morgen sprechen, wenn du nüchtern bist.»
«Ich bin jetzt nüchtern.»
«Jaja», sagte sie und sah sich um, ob Harold sie vielleicht beobachtete.
«Komm, wir fahren irgendwohin», sagte Jeffrey und versuchte
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