Schattenbraut - Black, L: Schattenbraut - Takeover (1)
die Fenster hereinschien, die auf den Hof und den Eastman Reading Garden hinausgingen. Wundersamerweise hob Lucas Parrishs Schwester beim ersten Läuten ab. Doch nachdem er sich kurz vorgestellt hatte, sagte sie bereits abwehrend: »Ich habe kein Interesse daran, Ihnen zu helfen, meinen Bruder zu töten. Außerdem muss ich in zehn Minuten auf meinem Posten sein.«
»Ma’am, im Moment ist er von circa fünfunddreißig Cops und Sicherheitsleuten umzingelt. Ich will auf gar keinen Fall, dass ihn jemand erschießt, denn wenn erst eine Kugel abgefeuert wurde, dann werden weitere folgen, und in der Bank befinden sich noch mehr Leute außer Ihrem Bruder. Mir ist also genauso viel daran gelegen, ihn am Leben zu erhalten, wie Ihnen, verstanden?«
Zögerlich stimmte sie ihm zu.
»Haben Sie eine Ahnung, warum Ihr Bruder das tut?«
»Weshalb er eine Bank ausraubt? Weil er ein Träumer ohne richtigen Job ist, deshalb.«
»Er will nicht für seinen Lebensunterhalt arbeiten?«
Offensichtlich nahm sie es ihm nicht übel, denn sie antwortete ruhig: »Er ist nicht faul, er ist ungeduldig. Er sehnt sich nach großen Abenteuern, Unmengen Geld, einer wunderschönen Frau, die ihn liebt, bis dass der Tod sie scheidet. Seine Ziele sind zu hoch gegriffen, könnte man wohl sagen.«
»Man hat mir gesagt, dass Lucas als Kind misshandelt wurde. Können Sie mir mehr darüber erzählen?« Er versuchte, möglichst professionell zu klingen, auch wenn er in Wahrheit keine Ahnung hatte, wie Lucas’ verdammte Kindheit ihnen in dieser Situation helfen könnte. Doch Theresa war ein großes Risiko eingegangen, als sie dieses Detail weitergegeben hatte, weshalb er sich lieber darum kümmerte.
»Sie meinen die Verbrennungen?«
»Ähm, ja.«
»Der Mann meiner Mutter. Unser Vater, wahrscheinlich, auch wenn ich mir da nie so ganz sicher gewesen bin.«
»Er hat die Familie verlassen, als Sie beide noch Kinder waren?«
»Ja.« Sie wartete, dass Patrick weitersprach, fragte sich ganz offensichtlich, worauf er hinauswollte.
Er begann, erst hin und her zu laufen und dann die Treppen ein Stockwerk in die Tiefe zu steigen. »Hat Lucas damals Probleme bekommen?«
»Nein. Er hat sich nicht auf Bagatelldelikte eingelassen – das wäre ihm zu albern gewesen. Ich hatte damals mehr Probleme als er. Er mochte die Schule, hat Teilzeit hier und dort gearbeitet. Er hat viel gelesen. Wahrscheinlich ist er deswegen zum Träumer geworden – er hat Bücher gelesen und Bilder gemalt, um die Tage in unserem Haus zu überstehen. Ich war lieber draußen und habe mit den Jungs Football gespielt, bin über Zäune geklettert, Hauptsache, ich war mit anderen Kindern zusammen. Wir alle gehen unterschiedlich mit Situationen um.«
Patrick konnte einfach nicht stillstehen. Er flüchtete vor dem Sonnenlicht und schlüpfte zwischen den kühlen Säulen zum Kartenraum, wo Rachael mit dem Rücken zu ihm saß und den Monitor anstarrte, auf dem ihre Mutter als kleine Pixelfigur zu sehen war.
»Hat er sich anderen Leuten gegenüber gewalttätig verhalten? Sich gegen seinen Vater gewehrt?«
»Nein, das war ich. Ich habe gekämpft. Ich wurde der Schule verwiesen, weil ich ein anderes Mädchen in die Pokalvitrine gestoßen habe. Lucas war eher philosophisch wie unsere Mutter. Wahrscheinlich stehen wir uns deswegen nicht so sonderlich nahe.«
Durch die gläserne Tür zum Kartenraum konnte Patrick sehen, wie Rachaels Freund Craig ihr eine feucht beschlagene Wasserflasche anbot, die sie sogar entgegennahm. Patrick fühlte sich dadurch eigenartig getröstet. Zumindest war sie nicht vollkommen apathisch. »Wie meinen Sie das?«
»Mom hat eisern an Dad festgehalten. Sie sagte, sie liebt ihn, und für die Liebe müsse man alles tun. Ich habe nie ganz verstanden, wie ihre Kinder dann in diese Logik passten, aber offensichtlich ist das normal. Manche Kinder halten zu dem nicht misshandelnden Elternteil, manche – wie ich – verabscheuen ihn noch mehr als den misshandelnden. Ein Psychiater hat mir das mal gesagt. Die Frage ist aber – warum erzähle ich Ihnen das alles?«
»Weil Ihr Bruder einen, vielleicht zwei Menschen heute Morgen umgebracht hat ohne einen offensichtlichen Grund.«
»Etwas weiß ich über meinen Bruder«, erwiderte die Frau. »Er hat einen Grund, auch wenn dieser nur für ihn selber einen Sinn ergibt. Und ich muss in dreißig Sekunden auf meinem Posten sein.«
»Ich danke Ihnen, Ms. Parrish.«
»Viel Glück.«
Patrick wappnete sich, den Kartenraum zu betreten. Er
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