Schattenbraut - Black, L: Schattenbraut - Takeover (1)
beziehungsweise seine Witwe, auch wenn Paul vermutete, dass sie von dieser Veränderung in ihrem Leben noch nichts wusste. »Wie heißt er?«
Die Augen der Frau waren riesig und meerblau unter zerzausten Strähnen spülwasserblonden Haares. Sie drückte das Kind an sich, dessen Kopf an ihrer Schulter ruhte. Es schien zu dösen, die Haut um seine Nase herum war leicht gerötet, doch es umklammerte fest einen kleinen Plüschhund mit einem Browns-Footballhelm. Mutter und Sohn wirkten wohlgenährt und gut gekleidet. »Er heißt Ethan.«
»Das ist ein schöner Name. Wurde er nach seinem Vater benannt?«
»N-nein. Er gefiel mir einfach.«
»Ah ja. Und warum ist Ethan nicht im Kindergarten … Wie heißen Sie?«
Die Frau neben ihr ergriff das Wort und warf sich dabei kastanienbraune Locken aus dem Gesicht. »Sie heißt Jessica. Können Sie sie nicht gehen lassen? Er ist doch nur ein kleiner Junge.«
Lucas musterte sie scharf. »Es ist nicht nett, sich vorzudrängeln. Und ich bin sicher, dass Jessica selber sprechen kann.«
»Er ist erst zwei«, sagte Jessica Ludlow mit einem weichen Südstaatenakzent, so leise, dass Paul sie kaum hören konnte. »Ich habe eine nette Tagesmutter gefunden, aber er fühlte sich heute Morgen nicht gut, weshalb sie ihn nicht nehmen wollte.«
»Deshalb haben Sie ihn mit zur Arbeit genommen?«
»Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Ich wollte gerade meinem Chef sagen, dass ich einen Tag freinehmen muss.« Ihre Lippen kräuselten sich, und sie atmete zitternd ein. »Und dann wäre ich gegangen.«
»Ganz ruhig. Folgen Sie dem Beispiel Ihres Sohnes, und entspannen Sie sich«, sagte Lucas, bevor er weiterging. »Sie, Plappermaul. Was machen Sie hier?«
»Ich heiße Cherise.« Die etwa dreißigjährige schlanke Frau blickte Lucas eher verärgert als ängstlich entgegen. Paul fand das alles andere als klug.
»Danke für die Information, aber ich kann mich nicht erinnern, Sie nach Ihrem Namen gefragt zu haben. Ich fragte, was Sie hier tun.«
Bobby war an den vergitterten Schaltern auf und ab gegangen wie eine Hyäne vor der Fütterung, doch jetzt blieb er stehen, vielleicht weil er etwas in der Stimme seines Partners hörte. Sie sind zu weit voneinander entfernt , dachte Paul – ich kann sie nicht beide treffen, einer würde mich zuerst überwältigen.
»Ich arbeite an den Schaltern für die Sparbriefe.«
»Was ist das?«
»Sparbriefe? Das sind festverzinsliche Anlageprodukte. Sie sind außerdem steuerbefreit und damit eine sichere Sparanlage. Sie werden dort drüben gekauft und eingezahlt.« Sie nickte in Richtung der Schalter in seinem Rücken, auf der East-Sixth-Seite der Lobby. »Diejenigen, an die die Wachmänner gefesselt sind, dienen nur noch der Dekoration.«
»Es befindet sich also Bargeld in den Schaltern? Wie viel?«
»Keine Ahnung.«
Der M4-Karabiner hob sich langsam, als ob es sich nur um eine zufällige Bewegung handelte und nicht mit der plötzlichen Anspannung in seinem Gesicht in Verbindung stand. »Ich fange an, Sie nicht zu mögen, Cherise. Ich fange an, an Ihrer Sorge um Ihre Kollegen zu zweifeln. Jessie, Sie halten Ihrem Baby besser die Ohren zu.«
Die junge Mutter schnappte nach Luft.
»Wie viel also, Cherise?«
»Etwa drei- bis fünfhunderttausend Dollar.«
»Hmm.« Lucas senkte das Maschinengewehr, griff in seinen Seesack und holte einen roten Nylonrucksack heraus, den er ihr zuwarf. »Machen Sie den voll.«
Cherise rührte sich nicht. »Wie bitte?«
»Sie arbeiten doch an diesen Schaltern, oder? Sie wissen sicher, wo das Geld ist.«
»Nun, ja – aber ich habe nur die Schlüssel zu meinem Schalterschrank, der mir zugeteilt ist. Ich habe etwa …«
Bevor sie ihre Kopfrechnung beenden konnte, griff Lucas erneut in den Seesack und zog einen etwa zwanzig Zentimeter langen Schraubenzieher daraus hervor. »Kein Problem, ich habe schließlich den hier. Es könnte die Schlösser ein wenig verkratzen, aber das ist mir egal.«
Cherise saß immer noch bewegungslos auf dem Boden.
»Wollen Sie in dieser Lobby bis zwei Uhr mittags sitzen bleiben?«
Langsam erhob sie sich, den Blick unverwandt auf den Lauf des Gewehres gerichtet.
»Gut gemacht, Cherise. Wir werden jetzt in weitem Bogen um Ihre Freunde von der Security und ihr Hündchen herumgehen. Vergessen Sie nicht, dass ich neunundzwanzig Trommeln von .223er Geschossen auf Ihren Rücken gerichtet halte, und beim geringsten Zucken meines Fingers würden die sich alle in Ihren Körper entladen. Bobby,
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