Schattenbrut (German Edition)
Bild. »Mitte September?«
»Gut möglich. Ich bin aber nicht sicher.«
»Hat die Polizei irgendwelche Spuren erwähnt?« Vielleicht würde man ihm als nächstem Angehörigen mehr verraten.
»Nein. Man hat mich nur gefragt, ob meine Frau sich kürzlich an der Hand wehgetan hat.«
Ungeduldig kratzte sich Billy am Knie. »Warum?«
»Offenbar fand man ein frisches Hämatom an den Fingerknöcheln, und es könnte sein, dass Clarissa sich gegen ihren Angreifer gewehrt hat.«
»Und? Hatte sie sich wehgetan?«
»Nicht dass ich wüsste, aber es kann trotzdem sein.«
»Danke, dass sie mich angerufen haben«, sagte Billy und er versprach, sich zu melden, sollte er etwas Neues hören. Erst als sie das Gespräch beendet hatte, fiel ihr ein, dass sie Christian Puhlmann gar nicht gefragt hatte, wie es ihm ging. Erst gestern hatte er seine Ehefrau durch einen brutalen Mord verloren. Tränen schossen ihr in die Augen, Tränen der Wut über ihre Unsensibilität, über den Tod von Clarissa und über das Tosen in ihrem Kopf, das sie nicht verstehen ließ, was geschah.
Eine Frau aus Clarissas Schulzeit, der Clarissa etwas schuldete. Paula! Unmöglich. Davon hätte Clarissa spätestens auf Julias Beerdigung erzählt. Aber verdammt, wen hatte Clarissa sonst gemeint?
Billy merkte, dass sie noch immer das Telefon in der Hand hielt. Sie tat es auf den Nachttisch, legte sich zurück in ihr Bett und zog die Decke bis über ihr Kinn. Doch dieses Mal stellte sich das wohlige Gefühl nicht ein. Nervös rieb sie ihre kalten Füße gegeneinander und zog fröstelnd die Schultern hoch.
Was wolltest du mir sagen, Clarissa?, fragte sie tonlos und gab der alten Freundin ein stummes Versprechen: »Ich werde es herausfinden.«
14.
Die Sonne, die früh durch das Dachfenster schien, bedeutete für Billy das Ende der quälenden Nacht. Nach einer ausgiebigen Dusche richtete sie den Frühstückstisch und wartete auf ihre Mutter. Als Ursula nach unten kam, musterte sie Billy, lief zu ihr und strich ihr mit der Hand über den Kopf.
»Du siehst erschöpft aus. Wie geht es dir?«, fragte sie besorgt.
»Mit mir ist alles Okay. Tut mir leid, dass ich mich gestern so früh verdrückt habe.«
Ursula schenkte sich einen Kaffee ein, gab Zucker und Milch dazu und schob sich neben Billy auf die Eckbank. Die Bank gehörte zum eingebauten Mobiliar des Hauses und war der Lieblingsplatz der beiden Frauen. »Ich kann nur ahnen, wie du dich fühlst.« Sie meinte damit Oren. Von Clarissa wusste sie nichts.
»Ich bin glücklich, dass ich ihn wiederhabe.«
»Du siehst aber nicht glücklich aus«, stellte Ursula fest.
»Hat er dir von seinen Eltern erzählt?«
»Ja. Von ihnen und seinem behinderten Bruder.«
Billy nickte. Sicher hatte er den Mitbewohner mit den Drogen nicht erwähnt. »Ich mache mir Sorgen. Nein, das ist es nicht. Es beunruhigt mich, dass er einfach gegangen ist.« Sie zog ihre Beine auf die Bank und umfasste sie mit den Armen, um sich zu wärmen. »Bist du sicher, dass du ihm nicht eine Frage gestellt hast, die ihm unangenehm war?«
»Ich habe es dir schon gestern gesagt und sage es nochmal: Er hat sich wohlgefühlt. Und er war es, der andauernd Fragen gestellt hat. Sosehr ich dich verstehe, ich verstehe auch ihn. Auch sein bisheriges Leben stülpt sich gerade um.«
»Ich hatte nur den Eindruck, dass er froh ist, bei uns sein zu können.«
»Das ist er auch. Aber er ist kein Kind mehr, das pausenlose Aufmerksamkeit benötigt. Alles, was du tun kannst, ist ihm das Gefühl zu geben, dass er jederzeit zu dir kommen kann.«
Missmutig stand Billy auf und ging zu dem Holzkohlenherd. Auch er war bereits in der Küche gewesen, als Billy und Ursula eingezogen waren. Und obwohl Ursula einen modernen Herd besaß, nutzten sie den Alten gerne als Ofen, um das untere Stockwerk zu wärmen. Mit geübten Griffen machte Billy ein Feuer.
»Bleibst du hier?«, fragte Ursula und ihr Tonfall verriet, dass sie sich darüber freuen würde.
»Gerne. Zu Hause fällt mir die Decke auf den Kopf. Ich muss aber nochmal weg.«
»Heute ist Sonntag«, gab Ursula zurück.
»Ich muss etwas Privates erledigen.«
Billy packte ihre Handtasche und verließ schließlich das Haus. Vielleicht hatte Ursula recht und sie sollte sich nicht um Oren sorgen, überlegte sie, als sie im Auto saß. Er mochte seine Probleme haben, doch welcher Jugendliche hatte die nicht? Sie dachte an den Abend von Clarissas Tod und musste augenblicklich lächeln. Selbst wenn er nicht ihr Kind
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