Schattenelf - 1 - Der dunkle Sohn
unermüdlichen Intriganten ein wenig überrascht.
»Sie bevorzugt andere, die aber noch nicht so weit sind, dass sie in dieses Amt aufsteigen könnten«, antwortete der Meister von St. Mere-Abelle.
»Ihr sprecht, als läge Vater Agronguerre bereits im Grab«, sagte Braumin angewidert.
»Vater Agronguerre ist in jedem außer dem biologischen Sinne längst tot«, erwiderte Bou-raiy, und obschon seine Worte gefühllos klangen, konnte Abt Braumin dem Mann schwerlich einen Vorwurf machen, denn seine oftmals kalte Stimme enthielt tatsächlich – und das war überraschend – einen Hauch von Mitgefühl. Vielleicht hatten die Jahre mit Agronguerre, einem in jeder Hinsicht liebenswürdigen Menschen, bei Fio Bou-raiy positive Spuren hinterlassen.
»Sein Gedächtnis ist sehr schwach; manchmal weiß er nicht einmal mehr seinen eigenen Namen«, beeilte sich Bou-raiy fortzufahren. »Als Abt war er stets ein Vorbild – weit mehr, als ich es für möglich gehalten hätte, denn ich habe seine Wahl damals, vor all den Jahren, nicht unterstützt. Aber ich bin sicher, lange wird er nicht mehr unter uns weilen. Ein paar Monate noch, ein Jahr oder zwei, mehr nicht. Ich sage das nicht etwa, weil es mich drängt aufzusteigen, auch wenn ich mich für am besten geeignet halte, die Nachfolge Vater Agronguerres anzutreten, sondern schlicht, weil es die Wahrheit ist, eine Wahrheit, die übrigens unter den Ordensbrüdern von St. Mere-Abelle, die seinen Niedergang jeden Tag vor Augen haben, bestens bekannt ist.«
Abt Braumin lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und begann, Fio Bou-raiy zu mustern, während er versuchte, das alles auseinander zu sortieren. Versuchte Bou-raiy ihn deshalb zu überreden, um jenen Stimmenblock auf seine Seite zu ziehen, dem vermutlich auch Viscenti, Castinagis, Talumus und Meister Dellman von St. Belfour angehören würden, und vielleicht sogar Abt Haney von dieser Abtei im Norden? Trotz seines mehrjährigen Aufenthalts in St. Belfour war Dellman Braumin Herde und seinen Freunden, die er in St. Precious zurückgelassen hatte, treu verbunden geblieben; und es war gut möglich, dass Haney, ein junger Abt, der Agronguerres Nachfolge in St. Belfour angetreten hatte, sich bei seiner Stimmabgabe an dem eher weltlich gesinnten Dellman orientierte.
Aber wo passte nach Bou-raiys Ansicht Jilseponie ins Bild? Hoffte er lediglich, Braumin auf seine Seite zu ziehen, wenn er die Frau nach außen hin begünstigte? Oder wollte er ihrer Stimme im Kollegium tatsächlich Gehör verschaffen?
Dann fiel es Braumin schlagartig wie Schuppen von den Augen, als er Fio Bou-raiys einzigen ernst zu nehmenden Konkurrenten um das Amt ins Auge fasste. Denn natürlich war es ganz richtig, wenn Bou-raiy sagte, dass Braumin Herde zu jung und unerfahren für einen solchen Aufstieg war. Und wenn man den raschen Niedergang von Marcalo De’Unnero bedachte, die tumultartigen Unruhen in St. Honce, wo es wieder einmal einen neuen Abt gab, die extreme Schwächung von St. Gwendolyn nach der Katastrophe der Rotflecken-Pest in der dortigen Abtei, sowie den Umstand, dass sowohl St. Precious als auch St. Belfour derzeit Äbte vorstanden – Braumin und Haney –, die viel zu jung waren, um für das Amt des ehrwürdigen Vaters zu kandidieren, blieb aufgrund seiner Leistungen und Führungsqualitäten lediglich einer der älteren Meister und Äbte übrig: Abt Olin von St. Bondabruce in Entel. Damals vor zehn Jahren hatte Olin Agronguerre den Titel im Abtkollegium ernsthaft streitig gemacht, und während der letzten zehn Jahre war die Position des Abtes aus dem Süden weiter gestärkt und gefestigt worden. Doch Olin besaß eine Schwäche, einen dunklen Fleck, der seinem Aufstieg im Wege stand und den die Befürworter von Abt Agronguerre bei der letzten Wahl überaus wirksam gegen ihn eingesetzt hatten: Er war enger mit dem im Süden liegenden Königreich Behren verbunden als seit Jahrhunderten jeder andere abellikanische Abt. Sicher, das Bärenreich und Behren lagen miteinander nicht im Krieg, aber sie waren auch nicht die allerbesten Nachbarn. Darüber hinaus hatte die abellikanische Kirche mit den Yatol-Priestern des südlich gelegenen Königreiches noch nie auf gutem Fuß gestanden. Olin stand seiner Abtei in Entel vor, der südlichsten Stadt des Bärenreiches, einer aufstrebenden Hafenstadt, nur eine kurze Schiffsreise von Jacintha, der Hauptstadt Behrens und dem Thronsitz des Chezru-Häuptlings, entfernt. Olins Verflechtungen mit den seltsamen Bräuchen
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