Schattenelf - 1 - Der dunkle Sohn
verdrießlichen Blick, ohne ihr jedoch zu widersprechen, denn tatsächlich schien Aydrian mit jedem Schritt sicherer zu werden, wodurch ihm jene Bescheidenheit abhanden kam, die man zum Lernen dringend benötigte. »Am Ende wird sich der Geist Nachtvogels durchsetzen«, stellte Lady Dasslerond fest, nicht zuletzt, weil sie selber diese Worte hören wollte.
Trotz ihrer klaren Worte war sich Lady Dasslerond dessen aber keinesfalls mehr sicher. Je länger Aydrian beim Orakel blieb, desto widerspenstiger war er, wenn er wieder herauskletterte. Und was die nachhaltige Wirkung anbetraf, die seine Unterredungen mit seinem Vater und dessen Seele hinterließen … Dasslerond hatte noch nichts davon bemerkt. Er war noch immer derselbe willensstarke, arrogante, dickköpfige junge Bursche. Wenn überhaupt, so waren diese unangenehmen und überaus gefährlichen Eigenschaften während der letzten Wochen noch unerträglicher geworden.
Er ist ein Junge, ein Mensch ohne wirkliches Gemeinschaftsgefühl. Dasslerond musste sich zwingen, das niemals zu vergessen. Ein Junge, der sehr viel mehr als seinen besten Freund, nämlich seinen einzigen Freund verloren hat. So ernsthaft Dasslerond sich auch ermahnte, diese Besorgnis erregenden Gedanken niemals außer Acht zu lassen, sie merkte, dass sie für den Jungen nur wenig Sympathie aufbringen konnte. Mit jedem Wort stellte er ihre Geduld auf die Probe, und obschon noch immer überzeugt, er könne sich als Lösung für die Probleme von Andur’Blough Inninness erweisen, wünschte sie sich, er hätte ihre Heimat längst verlassen.
Oder Schlimmeres.
Allein die mittlerweile fast verheilte Narbe Bestesbulzibars, die sie nachhaltig daran erinnerte, warum sie sich die Mühe gemacht hatte, das todgeweihte Baby aus Jilseponies Leib zu retten, ermöglichte es ihr, ihren Weg bei Aydrian beharrlich weiterzuverfolgen. Aber Lady Dassleronds Geduld hing an einem seidenen Faden.
»Wir müssen an den Jungen und an seine reine Abstammung glauben«, gab To’el zu bedenken.
Ein Schrei von der anderen Seite riss die beiden aus ihrem Gespräch. Sie fuhren gleichzeitig herum und sahen zwei Elfen springend und rufend auf sich zukommen.
»Die Steine!«, rief der eine. »Sie sind verschwunden, und zwar alle!«
To’el verschlug es den Atem, Lady Dasslerond aber, weit weniger überrascht, runzelte nur die Stirn. »Verschwunden?«, fragte sie, als die beiden näher kamen.
»So ist es, Mylady«, antwortete Toyan Miellwae, eben jener Elf, den Aydrian am Morgen auf dem Übungsfeld bezwungen hatte. »Der Beutel mit den Steinen ist verschwunden. Ich dachte, vielleicht hättet Ihr ihn mitgenommen …«
»Ich nicht«, erwiderte Lady Dasslerond, deren goldene Augen sich zu schmalen Schlitzen verengten und sich in die ungefähre Richtung des Orakels drehten. Sie war die Herrscherin von Caer’alfar und im Besitz jenes magischen Smaragds, der mit dem Land so eng verbunden war; sie hätte es gemerkt, wenn sich Fremde eingeschlichen hätten. Und sie wusste auch, dass niemand aus ihrem disziplinierten Volk den Beutel an sich genommen hätte, ohne sie vorher zu fragen; damit lag die überaus einfache Lösung des Rätsels ziemlich offen auf der Hand.
»Doch nicht etwa Aydrian?«, fragte To’el beinahe tonlos.
Dassleronds Blick bekam etwas Stechendes, als sie überlegte, ob der junge zukünftige Hüter und Erretter diesmal nicht vielleicht zu weit gegangen war.
»Du bist nicht mein Vater«, hörte Aydrian sich laut sagen, während der Gedankenfluss weiterhin in ihn hineinströmte – oder durch ihn hindurch; wie das Orakel tatsächlich funktionierte, entzog sich seiner Kenntnis. All diese Gedanken lenkten sein Augenmerk immer wieder fort vom Tal der Elfen und bedrängten ihn – ungeachtet der Folgen, die es haben mochte, wenn er Lady Dasslerond verärgerte –, in die weite Welt hinauszuziehen.
»Nachtvogel würde mich niemals auf diese Weise verleiten, die Toel’alfar zu verlassen«, protestierte der Junge. »Außerdem, wolltest du mich nicht erst vor wenigen Wochen noch in die andere Richtung lenken? Wer bist du, Geist? Von Natur aus wankelmütig, oder bist du vielleicht zwei?«
Die schattenhafte Gestalt wanderte über das Spiegelglas, und hinter ihr wurde ein Bild sichtbar, eine Ansicht von Gebäuden, Wohnhäusern, aber ganz anders, als er sie hier aus Caer’alfar kannte. Die Bauten waren sehr viel größer, darunter eines mit hoch aufragenden Türmen und riesigen, bunten Fenstern.
Bunte Fenster?, wunderte
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