Schattenelf - 4 - Feuerzauber
überreden aufzugeben?«
»Nein. Ich möchte nur, dass Ihr Euch selbst treu bleibt. Weiter nichts. Wenn Ihr erneut den Pfad des Krieges beschreitet, wird das nicht ohne Blutvergießen abgehen. Alle werden einen hohen Preis bezahlen müssen, sowohl Behreneser als auch To-gai-ru. Die Frage lautet, ist das Ziel, die Freiheit, diesen Preis auch wert?«
»Allemal!«, antwortete Brynn ohne das geringste Zögern.
»Dann wäre das geklärt.«
Damit machte Pagonel kehrt und ließ sie allein auf der kleinen Steinbrücke stehen, die die beiden Flügel der Wolkenfeste, ihres Klosters, hoch über dem Grund einer tiefen, nebelverhangenen Schlucht miteinander verband.
Mit wenigen Worten hatte der Mystiker ihr Denken auf den Kopf gestellt und ihre Sicht der Dinge verändert, nur ein kleines Stück zwar, aber in eine Richtung, die sich, wie Brynn bereits jetzt glaubte, als überaus fruchtbar erweisen könnte.
Sie wusste, es war nur eine der zahllosen Lektionen, die Pagonel und seine Ordensbrüder und -Schwestern ihr während ihres Aufenthalts in der Wolkenfeste erteilen würden.
»Ich bin immer wieder erstaunt, wie sehr wir uns doch alle gleichen, obwohl wir unsere Überzeugungen mit verschiedenen Etiketten versehen, unseren Göttern unterschiedliche Namen geben und andere Rituale festlegen, um denselben höheren Bewusstseinszustand zu erreichen«, sagte Pagonel, als er aus dem abgedunkelten Zimmer kam und vor die gespannt wartende Brynn trat.
Brynn sah ihn verwundert an; sein selbstgefälliger Auftritt überraschte sie und war mehr als nur ein wenig enttäuschend. Sie war soeben eines der größten Wagnisse ihres Lebens eingegangen und hatte diesem Mystiker, der ihr während der letzten Wochen ihres Aufenthalts in der Wolkenfeste so sehr ans Herz gewachsen war, eines der größten Geheimnisse der Touel’alfar anvertraut. Dass sie Pagonel in die Geheimnisse des Orakels eingeführt hatte, war für sie ein gewaltiger Vertrauensbeweis, denn die Talente, die ihr das Volk von Lady Dasslerond vermittelt hatte, waren nicht zur weiteren Verbreitung bestimmt. Sie hatte erwartet, der Mystiker würde überwältigt sein, würde den Raum mit demselben ungläubigen Staunen im Gesicht verlassen wie Brynn nach ihrem ersten erfolgreichen Orakel, als sie glaubte, Kontakt zu den Geistern ihrer toten Eltern aufgenommen zu haben.
Er war lange in dem Zimmer geblieben, und Brynn war sicher, dass es ihm gelungen war, eine hohe innere Intensität zu erlangen, eine Ebene des Bewusstseins, die die Grenzen der Sterblichkeit überwand. Und jetzt stand er hier vor ihr und war offenbar nicht einmal beeindruckt.
»Denn im Grunde gibt es nur eine einzige Vorschrift«, begann Pagonel, doch dann sah er Brynns Enttäuschung, die ihr deutlich ins Gesicht geschrieben stand, und hielt inne.
»Habt Ihr schon von den Abellikaner-Mönchen aus dem Bärenreich gehört?«, fragte der Jhesta Tu sie einen Augenblick später.
Brynn nickte. »Sie beziehen ihre Kraft aus der Verwendung von Edelsteinen, die bei ihnen als heilig gelten.«
»Die Yatols dagegen betrachten diese Edelsteine als Sakrileg.«
Wieder nickte Brynn. »Und die Jhesta Tu?«
»Wir haben uns ihrer auch schon bedient.«
»Und, wart Ihr so beeindruckt, dass Ihr sie in Euer religiöses System aufgenommen habt?«, erkundigte sich Brynn mit leisem, aber unüberhörbarem Sarkasmus, nachdem sich der Mystiker nach Kennenlernen des Orakels so wenig begeistert gezeigt hatte.
»Die Jhesta Tu versuchen, dieselben Kräfte, die diese Edelsteine oder auch Euer Orakel bieten, in uns selbst zu finden«, erläuterte der Mystiker. Er trat näher und tippte ihr gegen die Stirn. »Hier drin befindet sich ein hohes Maß an Magie und Kraft«, sagte er, bevor er Brynn zu ihrer großen Überraschung mit der Hand übers Gesicht fuhr, über ihren Hals, zwischen den Brüsten hindurch und schließlich über den Bauch bis in die Leistengegend. »Eine Kraftlinie von hier bis dort«, erklärte er und trat einen Schritt zurück. »Dort liegt das Zentrum Eurer Lebensenergie, Eures Chi. Es ist nur wenigen Menschen vergönnt, die Kraft dieser Energie wirklich kennen zu lernen.«
»Nur den Jhesta Tu?«, wollte die leicht verdutzte Brynn wissen.
»Auch unter den Jhesta Tu nur sehr wenigen«, erklärte Pagonel. »Und das auch erst nach jahrelangen Studien. Geistigen Studien.« Er langte nach unten, löste die schwarze Schärpe von seiner Taille und zeigte sie Brynn. »Die Schärpe aller Farben«, erklärte er. »Sie ist das
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