Schattenelf - 6 - Der letzte Kampf
Gefahr kann gar nicht genug betont werden, denn der junge Aydrian ist geradezu besessen von der Idee, endlich zu erfahren, was es heißt, ein großer Mann zu sein. Diese Erfahrung, wenn sie nicht einhergeht mit dem zweiten Lehrsatz, ist eine wahrhaft gefährliche Angelegenheit.
Ein großer Mann weiß, dass niemand besser ist als er.
Aber ein wahrhaft großer Mensch weiß auch, dass er nicht besser ist als jeder andere.
Pagonel
10. Aydrian begehrt Einlass
»Tüchtig sind sie ja, das muss man ihnen lassen«, sagte Brynn sarkastisch. Sie stand neben Pagonel auf der Festungsmauer von Dharyan-Dharielle, den Blick auf die südlich der Stadt gelegene Sandwüste gerichtet, wo die gewaltige Armee aus Jacintha unter dem Doppelbanner der Chezru und der abellikanischen Kirche Aufstellung genommen hatte.
»Yatol De Hamman muss auf kürzestem Weg von Avaru Eesa hierher marschiert sein«, pflichtete Pagonel ihr bei. »Eigentlich hatte ich erwartet, dass er sich erst einmal auf den Süden konzentriert, um Yatol Wadons Herrschaft über ganz Behren zu festigen.« Immerhin, dachte der Mystiker erleichtert, sie waren nicht überrascht worden. Zusätzlich zu den Truppen, die sich auf Brynns Befehl entlang des Landbruchs hatten einfinden sollen, hatte sie noch einige ihrer Garnisonskommandanten sowie den Drachen Pherol losgeschickt, um die Front zu organisieren.
»Du glaubst also, dass er einen Fehler macht?« Brynns hoffnungsvoller Blick, mit dem sie sich sofort auf jede mögliche Schwäche stürzte, erinnerte Pagonel wieder einmal daran, wie jung und unerfahren sie noch war.
»Entweder das, oder wir haben Jacinthas Schlagkraft unterschätzt, nachdem die Stadt Zuwachs durch Abt Olins Truppen erhalten hat«, erwiderte der Mystiker, dessen Tonfall keinen Zweifel daran ließ, dass er Letzteres für wahrscheinlicher hielt. »Nur wenige Städte im Westen Behrens haben Yatol Bardoh Treue geschworen, daher konnte Yatol De Hamman, nachdem Avaru Eesa sich auf die Seite Jacinthas geschlagen hat, womöglich gar zu Recht glauben, ganz Behren befinde sich wieder unter den weiten Fittichen Jacinthas. Aber selbst wenn das zutreffen sollte, hätte ich angenommen, dass Yatol De Hamman vorsichtiger zu Werke gehen würde, ehe er in derart großer Zahl vor den Toren Dharyan-Dharielles aufmarschiert.«
»Alles deutet darauf hin, dass Abt Olin das gesamte traditionell zu Behren gehörende Gebiet zurückwill«, sagte Brynn, und plötzlich sah Pagonel wieder jenen Anflug von Leidenschaft in ihren tiefbraunen Augen aufleuchten, dieselbe Leidenschaft, die sie einst zum Sieg über die Behreneser geführt hatte.
»Es ist eigentlich weniger Abt Olin, der mir Sorgen macht«, erklärte der Mystiker, »als vielmehr dein junger Freund, der derzeitige König.«
»Eigentlich kennen wir Aydrians Standpunkt in dieser Angelegenheit doch gar nicht«, erwiderte sie ausweichend. »Womöglich weiß er nichts von Olins Vormarsch gegen Jacintha.«
»Abt Olin ist mit zehntausend Soldaten des Bärenreiches angerückt«, erinnerte Pagonel sie.
»Größtenteils Söldner.«
»Die aber allesamt unter der neuen Fahne von Aydrians Königreich marschieren. Zudem hatte Abt Olin die Unterstützung der Flotte des Bärenreiches. Wenn dieser Mann, der nicht einmal ehrwürdiger Vater der abellikanischen Kirche ist, eine solche Streitmacht auf die Beine zu stellen vermag, dann möchte ich vermuten, dass das Königreich deines Freundes wirklich in Aufruhr ist.«
Brynns Miene verriet dem Mystiker, dass dieser Punkt an ihn ging.
»Dort kommen Reiter«, sagte Brynn plötzlich und deutete zur Seite, wo eine Gruppe von Soldaten aus Yatol De Hammans Truppenformation ausgeschert war und ihre Tiere in gestrecktem Galopp auf das Südtor von Dharyan-Dharielle zupreschen ließ. Brynn begab sich zum Stadttor hinüber, dicht gefolgt von Pagonel. Sie trafen genau in dem Moment dort ein, als die Reiter draußen vor dem Tor Halt machten. Sie führten drei Fahnen mit, die Jacinthas, das Immergrün-Symbol der abellikanischen Kirche sowie die Unterhändlerfahne, und lenkten ihre Pferde bis unmittelbar vor das geschlossene und verriegelte Tor.
»Ich bringe wichtige Neuigkeiten!«, rief der in der Mitte der Gruppe reitende Mann, ein stämmiger behrenesischer Krieger, allerdings kein Chezhou-Lei. Er trug einen auffälligen Schnauzer, der sich zu beiden Seiten seines Mundes nach unten zog und in dicht geflochtenen Zöpfen über sein Kinn herabhing. Sein schwarzes, buschiges Haar schien unter dem
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