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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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sah, konnte sie sogar den Kaiserpalast, die Andiamin-Höhen, vor dem dunklen Meer aufsteigen sehen. Dieser Anblick brachte sie zum Weinen – nicht nur, weil sie endlich sah, wonach sie sich so lange gesehnt hatte, sondern auch, weil diese Welt sie an die Geschichten erinnerte, die sie ihrer Tochter immer erzählt und auch dann noch fortgesetzt hatte, wenn das Mädchen längst eingeschlafen war.
    Sie war immer eine lausige Erzählerin gewesen, weil die Geschichten eigentlich nicht für ihre Tochter, sondern für sie selbst bestimmt gewesen waren.
    Das Lager der Tempelritter lag auf früher landwirtschaftlich genutzten und darum terrassierten Höhen nördlich von Momemn und bot einen Panoramablick auf alle Einheiten des Heiligen Kriegs. Weil Sarcellus Kommandierender Tempelritter war und damit einzig seinem Hochmeister Incheiri Gotian unterstand, war sein Zelt deutlich größer als die Zelte seiner Männer. Auf seinen Befehl hin war es am Rand einer Terrasse aufgeschlagen worden, damit Esmenet bestaunen konnte, in welch herrliche Gegend er sie gebracht hatte.
    In der Nähe saßen zwei blonde Sklavenmädchen auf einer Strohmatte, aßen schüchtern Reis und unterhielten sich leise in ihrer Muttersprache. Esmenet hatte sie schon mehrmals unruhig herüberblicken sehen. Ob sie fürchteten, sie würde ihnen ein ungestilltes Bedürfnis verheimlichen? Sie hatten sie gebadet, mit edlen Ölen eingerieben und sie in blauen Musselin und seidene Gewänder gekleidet.
    Esmenet merkte, dass sie die beiden wegen ihrer Furcht verachtete und doch zugleich gerade deswegen mochte.
    Sie hatte noch den Geschmack des Pfefferfasans im Mund, den sie ihr zum Abendessen gekocht hatten.
    Träum ich?
    Sie spürte den Betrug, der darin lag, Hure und zugleich Schauspielerin, also doppelt verworfen, doppelt erniedrigt zu sein, doch sie empfand auch einen ungeheuren Stolz, der sie in seiner verrückt anmutenden Anmaßung erschreckte. Das bin ich! rief etwas in ihr. Ich… wie ich wirklich bin!
    Sarcellus hatte ihr von all den Bequemlichkeiten erzählt, die sie hier erwarten würden. Wie oft hatte er sich nicht für die Unannehmlichkeiten der Landstraße bei ihr entschuldigt! Er war bescheiden gereist und hatte wichtige Briefe für seinen Hochmeister dabei, hatte ihr aber beharrlich versichert, das karge Leben werde enden, wenn sie erst Momemn erreicht hätten, wo er ihr Umstände zu bieten versprach, die ihrer Schönheit und ihrem Verstand angemessen wären.
    »Es wird wie das Licht am Ende eines langen Tunnels sein«, hatte er gesagt, »erhellend und blendend zugleich.«
    Mit zitternden Fingern fuhr sie durch die Brokatseide, die sich in ihrem Schoß bauschte. Im Feuerschein konnte sie die Tätowierung auf dem linken Handrücken nicht erkennen.
    Dieser Traum gefällt mir.
    Atemlos bewegte sie das Handgelenk an die Lippen, um den bitteren Geschmack des Duftöls auf die Zunge zu bekommen.
    Du wankelmütige Nutte! Vergiss nicht, warum du hier bist!
    Sie führte die Hand langsam ans Feuer, als wollte sie sie von Regen oder Schweiß trocknen, und beobachtete, wie die Tätowierung zwischen ihren Sehnen auftauchte.
    Das… genau das bin ich… eine alternde Hure.
    Und jeder wusste, was mit alten Huren passierte.
    Völlig überraschend trat Sarcellus aus der Dunkelheit. Esmenet hatte festgestellt, dass er der Nacht beunruhigend verbunden war – als ob er sich mit ihr und nicht in ihr bewegte. Und das trotz seines weißen Rittergewands.
    Er zögerte und musterte sie schweigend.
    »Er liebt dich nicht – jedenfalls nicht richtig«, sagte er schließlich.
    Sie hielt seinem Blick über das Feuer hinweg stand und atmete tief ein. »Hast du ihn gefunden?«
    »Ja. Er hat sein Lager bei den Männern aus Conriya aufgeschlagen… wie du gesagt hast.«
    Ein Teil von ihr fand seinen Widerwillen liebenswert. »Und wo, Sarcellus?«
    »In der Nähe des Ancillin-Tors.«
    Sie nickte und sah nervös weg.
    »Hast du dich gefragt, warum, Esmi? Wenn du mir überhaupt etwas schuldig bist, dann die Antwort auf diese Frage…«
    Warum ihn? Warum Achamian?
    Ihr wurde bewusst, dass sie ihm viel über Akka erzählt hatte. Zu viel.
    Nicht einmal bei Achamian war sie je solcher Wissbegier begegnet wie bei Cutias Sarcellus. Sein Interesse an ihr war geradezu heißhungrig gewesen – als habe er ihr billiges Leben so exotisch gefunden wie sie das seine. Und vielleicht war es ja so. Das Haus Cutias war eine sehr angesehene Adelsfamilie der Nansur. Für einen wie Sarcellus, der als Kind

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